Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Jerichow verhaftet: die Schülerinnen Gantlik, Dühr, Cresspahl; einer Festnahme entzog sich: Alfred Uplegger, derzeit Zehn A Zwei. Die Herren in den Ledermänteln kamen ihm auf den Hof, als er gerade mit einer langschäftigen Axt am Hauklotz zu Gange war. Woans sall de Has bewiesen, dat hei kein Voss is: überlegte der vorsätzlich, und schlug zurück. Wegen Körperverletzung am Staate hatte er unversehens eine wahrhaftige Straftat begangen, das sah er ein aus freien Stücken; lief was er konnte nach Westberlin. Wer schon seit Beginn der Ferien einsaß, das war der Schüler Lockenvitz.
Am 3. Januar 1952 sprach Jakob vor beim Volkspolizeikreisamt Gneez wegen eines Verbleibs von Cresspahls Tochter und durfte gelassen sprechen, dort aktenkundig als ein gewalttätiger Mensch. Da auch ein Mensch in blauem Uniformtuch so einem ungern im Bösen begegnet, sei es des Nachts auf unbegangenem Weg zwischen Kleingärten, setzten die Leute in der Wache ihm auf eine vernünftige Art auseinander: daß sie ihm längst einen Wink gegeben hätten, wüßten sie irgend etwas; du warst doch dinen Hannes kennen, Jakob! Jakob nahm Urlaub vom Dienst, richtete sich ein auf langwierige Warterei im Vorzimmer jener Villa im Komponistenviertel, in deren Kellern die örtliche Staatssicherheit die kurzfristigen Anlieferungen sortierte, bis sie reif waren zu einer Überstellung in die Straße der Geschwister Scholl zu Schwerin. Sofort öffneten zwei von unseren Herren ihm die Tür, sorgfältig gingen sie seine Dokumente durch mit ihm: Ausweis der Gewerkschaft, der freien deutschen Jugend, der Polizei, der D. S. F., der Sozialversicherung, der Deutschen Reichsbahn; ehe er denn beginnen konnte. Betrübten, mitfühlenden Benehmens rieten sie ihm einen Gang aufs Volkspolizeikreisamt, wo man zuständig sei für Vermißte Personen; in diesem Hause sei der Name Cresspahl noch vom Hörensagen unbekannt. – Wenn wir es Ihnen doch sagen, Herr Abs!
Die Tür zum Empfangszimmer war angelehnt, Cresspahls Tochter konnte Jakob deutlich vernehmen, bis er sich verabschiedete mit dem mißmutigen Gehabe eines Bürgers, der wollte was nachsehen, nun sind ihm selber die Personalien überprüft. Die Schülerin Cresspahl stand da den zweiten Tag auf Stäbchenparkett, jeweils drei Stunden lang, streng angewiesen zu einer Unbeweglichkeit. Die Vernehmer begehrten, daß die verdächtige Person ihren Blick gerade richte auf einen Nagel in der Wand, eingeschlagen zehn Zentimeter oberhalb gewöhnlicher Blickhöhe, an dem hing in einem vergoldeten Rahmen eine kolorierte Fotografie des Marschalls Stalin. Sprechen ohne Aufforderung war verpönt in diesem Hause; Sprechen auf Verlangen der Herren dringlich angeraten. Solange Jakob im Vorraum stand, fiel der Häftlingin Cresspahl das Atmen schwer, wegen der behandschuhten Pfote, die ihr über den Mund gelegt war. Als die Außentür hinter Jakob zufiel, mit einem seufzenden, zufriedenen Schmatzen, hieß es von neuem: Heben Sie den Kopf! Strecken Sie die Arme! Halten Sie die Handflächen gerade! Am Ende des dreistündigen Turnus waren jeweils Schreibübungen angesetzt, Wiederholungen des Lebenslaufes; danach Besprechung der Unterschiede zum gestern verfaßten Text. Jakobs Auftreten hatte dem Verhörpersonal eine neue Waffe beschert; was fängt man an mit der Frage, ob man als Oberschülerin Cresspahl mit diesem Eisenbahner in geschlechtlichen Beziehungen stehe? Dem folgte die Gymnastik im Stillstand, die vertrug sich mit dem Ärger auf die dumme Gesine Cresspahl, die steigt an einem düsteren Mittwochmorgen im Januar in den Milchholerzug nach Gneez, in ein Abteil für sich allein, so daß sie ohne viel Aufhebens an der Station Wehrlich verladen werden kann auf die Hinterbank eines E. M. W. Und nun mal eine kurze Einschätzung
des verbrecherischen Treibens
der Feinde
des Sozialismus;
wir haben sogar den stellvertretenden Ministerpräsidenten der Tschechoslowakei überführt, diesen Rudolf Slánský; wenns beliebt, Jugendfreundin Cresspahl! Heben Sie den Kopf! Strecken Sie die Arme vor!
Eine einzige Ohrfeige fing sie sich, gegen Ende der zehntägigen Untersuchung; da war sie aus den Pantinen gekippt. Als sie am 12. Januar abends zurückkam in Cresspahls Haus, bekam sie eine Umarmung von Jakob; wie er sich darauf verstand, als sei ihm das eine Gewohnheit mit ihr.
Das war der Sonnabend; am nächsten Tag zur Essenszeit kam Anita nach der Kirche zu uns; wiederum ein Erstes Mal. Beide fingen wir an, gleichzeitig sprachen wir: Du,
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