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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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der vor sich hin seine Standfläche verlängern kann. Neben dem breiten Bohlensteig reißen »gefärbte« Arbeiter mit Brecheisen die Fundamente verrotteter Bungalows aus der Erde, stapeln die Bretterschwarten ordentlich auf. Alles neu macht der Mai, die durchgehende Jahreszeit der Spekulation.
    Hinter dem Bohlensteig verwitterte, krumme, zusammensinkende Holzhäuschen, die man mieten könnte als Wohnungen oder Sommerhäuser auf Zeit, auch wenn die Telefonnummern der Besitzer schon ausgebleicht sind, abgeblättert. Eine der handschriftlichen Anpreisungen: All the bungalow people kiss my dick. Im flirrenden Himmel Flugzeuge mit Reklameschriften. SIE SEHEN VERBRANNT AUS . KÜHLEN SIE ES MIT –. Hütten mit fabrikmäßig vorgefertigten Fleischwaren, Blechdosen mit siebenundzwanzig trinkbaren Flüssigkeiten. Marie vertraut auf das Eis, das sie hier erwerben kann; statt auf eines in einer Fremde.
    Zurückgetreten auf den hölzernen Strandweg, reißt sie sich beim zweiten Schritt einen Splitter in die Fußsohle, hält stoisch still nach den Regeln des Ferienlagers und würdigt ihr vielfarbiges Eis, während die Mutter ihr die Haut mit einer Scherenspitze aufritzt. Dennoch bricht der Splitter mehrmals ab. Unter der Schere entsteht ein plumper, rasch kugliger Tropfen Blut. Wir haben nunmehr ein humpelndes Kind.
    Als der Strand schmal wird, treten die Siedlungen derer heran, die Neger genannt sein wollen; Leute mit förmlichem Betragen, die blicken vertraulich. Vier siebzehnjährige Kinder möchten ein fünftes ins Wasser tragen; weil am Sonnabend ein Schwarm Haie vor der Küste gesichtet wurde. In den verkommenden Schaufenstern die Reklame-Insignien der »Weißen«. Ein Großvater mit drei Kindern und ihren Angelruten zum Spielen; seine eigene hat er zu Hause gelassen. Gegend, imstande zu saftiger Vegetation; unter Abfällen der Industrie verkommt sie. Rundum einstöckige Wüstenei. Mitten im Juchhe des bedrängten Bahnsteigs liest eine des Deutschen Kundige ein Buch; »Die Einsamkeit des Menschen in der modernen amerikanischen Gesellschaft« steht auf dem Titel. Marie hat’s gesehen, sie lacht. Seufzend, tapfer sagt sie: Wenn wir doch bleiben dürften.
    14. August, 1968 Mittwoch
    In die Bank Union Dime Savings, Park Avenue Ecke 50. Straße, traten gestern morgen um fünf nach neun zwei Herren, durchschnittlich angezogen (»etwa wie ein Leutnant bei der Polizei«: schätzt die Polizei), die brachten einen Revolver und ein Hackebeil. Als sie mit $ 4400 auf der Straße standen, riefen hinter ihnen Angestellte der Bank: Diebe! Diebe! und kein Taxi nahm sie als Fuhre, so im dicken Morgenverkehr, und den Rest des Vormittags verbrachten sie im 17. Revier. (Der eine war gerade im Juni entlassen worden aus Sing Sing, verurteilt wegen Übungen im Fache der Bankräuberei.)
    Der ostdeutsche Sachwalter ist aus Karlovy Vary abgefahren so voller Zorn über die Weigerung seiner tschechoslowakischen Kollegen, ihre Presse wieder an die Kette zu legen; er läßt seine eigene Presse verschweigen, wo er war für siebenundzwanzig Stunden.
    Die Bürger der Č. S. S. R. haben vierzig Pfund Gold und Wertgegenstände zu etwa zwanzig Millionen Dollar abgeliefert beim Aufbaufonds ihrer kommunistischen Partei; die aber wünscht sich von ihnen lieber, sie möchten ihre Pausen für Kaffee oder Bier verkürzen, den Ausschuß vermindern; härter arbeiten. Ein Arbeiter, in einem Brief an die Gewerkschaftszeitung Prace, fragt sich wozu. Wenn junge Leute zehn Jahre warten müssen auf eine Wohnung und noch vierzigtausend Kronen ($ 2500) dafür zahlen. Neue Maschinen müssen her! Und so ungefähr das Gefühl, daß Arbeiten sich lohnt!
    Die Erlaubnis zum Weggehen von der Oberschule, das Zeugnis der Studienreife, das Abitur, die Schülerin Cresspahl erwarb es sich mehrmals.
    Einmal von den Lehrern, wie die es denn wollten.
    In Latein von einem bückichten, schreckhaften Greis, der übersah mit einer Darstellung von zerstreutem Wesen, daß aus der Zwölf A Zwei sein vorgezogener Jünger in der Grammatik, der Famulus Lockenvitz, wegblieb auf ein Nimmerwiedersehn, desgleichen die Schülerinnen Gantlik und Cresspahl für anderthalb Wochen, ohne die vorschriftsmäßigen Zettel der Entschuldigung von seiten der Familien. Der verriet sich, indem er sie erst im Februar einmal drannahm, als sie das Versäumte mochten nachgeholt haben. Der wich ein wenig zurück, wenn man anläßlich seines Marcus Tullius Cicero auf die Erwägung kam, dieser Redner gegen

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