Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
dem Kopf.
– Und wenn du im Leben bloß gelernt hättest, wie man eine Kuh melkt oder Kartoffeln kocht für Schweine?
– Das mit dem Lügen wäre gleich schlimm, auch die Schuld gegen andere. Aber die Erinnerung wäre weniger scharf, bequemer glaub ich. »Dumm sein und Arbeit haben / das ist …« das wünscht ich mir. Für diese Auskunft hafte ich nur dir, Marie.
– Wärst du geblieben in Jerichow, hättest du geheiratet in der Petrikirche, drei Mark für Ausschmückung zur Trauung, vier Mark für Gesang und Orgelspiel, ohne das genierliche Singen.
– Davon ist bloß wahr, ich möcht da beerdigt werden. Wenn du die Gemeinde dazu kriegst, den alten Friedhof noch einmal zu öffnen. Es braucht kein eigenes Grab zu sein; Jakobs genügt mir.
– Weil die Erde unvergänglich ist.
– Ja. Aus Aberglauben. Gegeben auf der Erde, den heutigen, neuntausend Meter über Chicago.
– Das mußt du aufschreiben lassen bei Dr. Josephberg. Wenn wir abstürzen, wir sterben doch zusammen.
– Mit Glück.
– D. E. erledigt das für uns.
– D. E. kann kochen, er kann backen. Und übermorgen stiehlt er der Königin Kind. And there will be / an end of me.
– Of him, Gesine. Rumpelstiltskin.
– Der Abschied 1952 war wie 1944 zum ersten Mal. Cresspahl brachte seine Tochter an die Haustür, lehnte am Rahmen, redete ein letztes Wort mit ihr. Binde dich ein Schaol um dein Hals. Als ginge es bloß zum Gustav Adolf-Lyzeum in Gneez, statt zu einer Martin Luther-Universität an der Saale. Blot dat he man rookte as ’n lüttn Mann backt.
– Mein Großvater war von stattlichem Wuchs!
– De lütt Mann, das war in Mecklenburg der arme, der heizte mit Reisig; der wohlhabende mit Buchenkloben. Das gibt einen feinen, einen ruhigen Rauch.
– Wenn einer gerade was verliert.
– Raucht er hastig.
– Nun die Aussteuer.
– Die Aussteuer war ein Mietzimmer am Amtsgraben von Halle, fünf Minuten Fußweg zur Saale; das hatte Jakob mir besorgt. Kommen viel umher, die Eisenbahner. Dahin wurde eine Truhe geliefert mit Windrosenschnitzwerk im Deckel. Herr Heinrich Cresspahl, Tischlermeister i. R. zu Jerichow, hatte seine Tochter für ein Leben an der Saale versehen mit einem Kostüm für den Winter, zwei neuen Kleidern für den Sommer (Rawehn, feinste Schneiderarbeit am gneezer Markt). Von Herrn Dr. Julius Kliefoth waren beigesteuert: FEHR , Die englische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts / mit einer Einführung in die englische Frühromantik; KELLER / FEHR , Die englische Literatur von der Renaissance bis zur Aufklärung; WULKER , Geschichte der Englischen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart; die Columbia Encyclopedia von 1950; ein MURET-SANDERS von 1933. Von Jakobs Mutter eine Bibel, mit der Inschrift auf dem Vorsatzblatt: 1947 eingetauscht für einen Hasen; Gottes Segen für G. C. in der Fremde. Des weiteren ein Konto beim Postscheckamt Halle/Saale.
– Finde ich frech, sich das Stipendium überweisen zu lassen vom Staat.
– Kein Stipendium für eine Studentin aus dem rückschrittlichen Mittelstand.
– Dein Vater zahlte Steuern! Du warst belobigt worden für deine Auftritte in der staatlichen Jugend!
– Für Cresspahl war der Staat jemand, mit dem hatte er keinen Vertrag; der besaß bloß Macht über seine Arbeit. Von dem wollte er keine Studienbeihilfe für seine Tochter geschenkt. Überwies ihr im Monat 150 Mark, dreißig weniger als die Kinder mit proletarischem Stammbaum sich abholen durften im Prorektorat für Studienangelegenheiten am Universitätsplatz 8/9.
– Wäre ich böse gewesen.
– Marie, ich kam aus. Butter konnte ich kaufen.
– Auf die Staatsverwaltung böse.
– Vorsicht an der Bahnsteigkante! Das konnte ich jeden Tag verlieren, was das Seminar für Englische Philologie (6) anbot im Herbstsemester vom 22. September bis zum 19. Dezember 1952:
Geschichte der amerikanischen Sprache;
Neuenglische Syntax, mit Seminar;
Englische Sprachübungen;
Geschichte der engl. Lit. im Industrie- und Monopolkapitalismus, mit Seminar;
Geschichte der am. Lit. im Imperialismus;
dafür erschien stud. phil. Cresspahl pünktlich zum pflichtmäßigen Unterricht in Russisch, Pädagogik, Polit-Ökonomie; schrieb in Gesellschaftswissenschaften säuberlich mit, daß Trotzki in seiner Eitelkeit einmal angeboten habe, für die Revolution zu sterben, nämlich unter der Bedingung, drei Millionen Parteimitglieder sähen ihm zu dabei. Kein Widerspruch wurde erhoben von dieser Studentin, als die
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