Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
den groben Schlag, sollte er nötig werden.) Leider war das Gerücht dem britischen Herrn mit dem wolligen Schnauzbart vertraut, bedauernd bewegte er die Tabakspfeife; die Protokollantin, neun Ringe zu viel an den Fingern für ihre fünfundzwanzig Jahre, sie blickte mit vorwissender Schadenfreude, ohne Kameradschaft auf das Kind aus Mecklenburg, das mit so billiger Münze eine Fürsprache erlangen wollte zum Flüchtlingsausweis. Die nächste Erkundigung ging auf diejenigen Angehörigen der Fritz Reuter-Oberschule von Gneez, die sich gemeldet hätten zur Bewaffneten Volkspolizei.
Die vernommene Person drehte ihre Aussage weg auf die Martin Luther-Universität zu Halle, wo Studierende aller Fakultäten sich einen weißen Fuß machen können mit Übungen am Kleinkalibergewehr und Funk-Anstalten im Gelände an den Ufern der Saale; schützte ein Unwohlsein vor; wurde streng ermahnt, zu einer Fortsetzung der Prüfung aufzutreten.
Draußen, in einer befremdlich heilen Gegend aus Villen und unbegangenen Bürgersteigen, wo nur ab und an ein Dienstmädchen einen Hund spazieren führte, war sie allein mit der Sorge, sie habe dem Häftling Lockenvitz wenig Nutzen eingebracht und werde dem Unteroffizier Pagenkopf einen Schaden bereiten. Wenn dies der Preis war für einen Ausgang nach Westdeutschland, wollte sie lieber durch die Büsche sich verdrücken.
Anita fand ihn, den Schleichpfad. Ihre Freundin Gesine wußte von dem Rechtsanwalt, Lietzenburger Straße, der Schulden in Raten beglichen hatte für Johnny Schlegel?
So kam Gesine Cresspahl zu einer Zuzugsgenehmigung für das Land Westberlin; außer der Reihe zwar. So durfte sie sich bei einem gewöhnlichen Polizeirevier, statt der Abteilung V , anmelden als regelmäßig wohnhaft im Stadtbezirk Grunewald. Wer da nachgewiesen ist, in einer Kartei hat er ein Recht auf den Personalausweis von Westberlin. Mit einem Darlehen von einhundertzwanzig westlichen Mark (allein das Ticket kostete über achtzig), als eine private Person flog sie in der vorletzten Juliwoche nach Frankfurt a. M., in einem Douglas-Clipper vom Typ 3, nachts.
Unter den Flügeln der DC 10 auf dem Wege von New Orleans nach N. Y. C. darf eine Einbildung nun im Atlantik die vorgelagerte Insel erkennen, das weißliche Brett Land, auf dem Mrs. Cresspahl Ferien versucht hat vor einem Jahr. Marie blickt nach vorn statt nach unten, die sieht die Inseln der Generalstaaten, Manhattan, Long Island.
– Welcome home, Gesine!
17. August, 1968 Saturday Tag der South Ferry
Am Riverside Drive wartete ein einziges Telegramm bei Mr. Robinson Adlerauge. Aus Helsinki war es zuverlässig gekommen, die Unterschrift schwer beschädigt: DEMNÄCHST TRANSPORTFÄHIG – ERISINION .
Zum Frühstück ein Telegramm aus Helsinki: BESUCH UNNÖTIG – ERISINN .
Mit der gewöhnlichen Post ein Brief mit deutschen Marken, amtlichen Aussehens: vom Forschungsinstitut für Psychoanalyse zu Frankfurt am Main. Rechnet man die Zeit für den Transport ab, so kommt die Antwort nach weniger als vier Wochen. Ein Professor macht sich die Mühe und schreibt einer Angestellten Cresspahl dreieinhalb Seiten, auf Privatpapier! in seiner eigenen Zeit.
Und hat sie persönlich zu kennen nie das Vergnügen gehabt. (Möchte er nach Lektüre des Briefes ernsthaft sagen.) Eine Diagnose von ferne weist er von sich, wegen mangelhafter Information, zu schmaler Basis; wie gewünscht. Zu Mitteilungen ist er bereit: wenn ich die Stimmen von Toten, von Abwesenden höre, wenn sie mir antworten, es kann auch liegen an der Ausstattung der Person mit dieser Art von Erlebnis. Bitte, entnehmen Sie meiner Folgerung nur, was Sie gerade brauchen können. Demnach eine feste Bindung an die Vergangenheit der Person; keine Rede, sie sei darüber hinaus. Sie ist auf dem richtigen Wege mit der Vermutung, hier wirkten Folgen von Verletzungen fort, von Verlusten; sie irrt sich, wenn sie da an Jakob denkt, an Cresspahl; angefangen hat es in der Tat mit der Mutter, die sich aus der Welt »ver-rückt« hat. Wir reden von dir, du Lisbeth geborene Papenbrock! Entfremdung ja; keine Wahnbildung. Nur daß sie unerledigt ist, die erste Verstoßung durch die Mutter (die zweite, die dritte). Keine Gefahr von Vererbung. Eines allerdings ist falsch, Mrs. Cresspahl: daß Sie manchmal die Antwort Ihres Kindes wissen, bevor Marie sie überhaupt ausspricht. Das kann eigennützig sein, ein Kind und in ihm sich selbst beschützen zu wollen; für das Kind wird solche Symbiose demnächst
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