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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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DEUTSCHLAND NICHT EINS WERDE ; UNSERE GUTEN CHAUSSEEN UND KÜNFTIGEN EISENBAHNEN WERDEN SCHON DAS IHRIGE TUN. VOR ALLEM ABER SEI ES EINS IN LIEBE UNTEREINANDER  …,
    auf Mittelachse geordnet. Das war die Ankündigung von Bürgerkrieg gewesen; danach sollt es mich verlangen? Gesamte Deutsche Demokratische Republik; nur mit Waffengewalt herzustellen. Dazu hatte der Schüler Lockenvitz angemerkt, was er gefunden hatte bei Voltaire zum Heiligen Römischen Reich.
    – Daß das Reich keins ist und weder römisch noch heilig. Meine Schularbeiten hab ich gemacht.
    – Heimweh. Ich versteh immer Bahnhof. Am Hbf. Gneez hatte die Stadt einem Alfred Fretwust den Fahrradstand als Altenteil verliehen, Justizwachtmeister des Großdeutschen Reiches. Na, der hatte schon während des Krieges einen Posten Soldatenstiefel verwandelt in Gutschriften auf ein Konto in Hamburg. Na, da war er paar Mal in Bützow einhäusig. In der Periode der Neuen Ökonomischen Politik nahm er Anzahlungen auf Motorräder in der H. O. Industriewaren, Straße des Großen Genossen Stalin; die wurden nie und nie geliefert. Na da war er mal wieder. Als es noch gut ging, mietete er sich Gartenhäuser auf dem Großen Werder, zum Alleinsein, für Freundinnen. Trank immer bloß einen Schnaps in der Stunde den Tag über. Zu Hause alles wie von der Katze abgeleckt; Familienleben in der Küche; über den Ehebetten eine abstumpfend nackte Venus. Spielte eindringlich den Bürger, den die anderen ihm wegen guten Auskommens abnahmen. Ein Spitzel. Nur wenn einer angetrunken den Angetrunkenen einen Zuchthäusler nannte, gab’s Prügelei. Na da war er mal wieder. Da durfte er bloß noch den Stand am Bahnhof bewachen. Pro Rad und Tag höchstens dreißig Pfennige. Und weil er doch schlafen mußte, versah die Frau den Dienst, bei all ihrem Stolz. Nach Alfred Fretwust, Justizwachtmeister, unbedroht, Entnazifizierter der Ersten Stunde, unbestraft, nach dem sollt ich Heimweh haben?
    – Und doch bist du gefahren, um Jerichow zu sehen.
    – War einmal im Norden zu Besuch, hatte zu Pfingsten in der langsamkriechenden Kolonne der städtischen Ausflügler die graue See unter dem verhangenen Himmel im Auge, über strahlendem Rapsgelb und regentiefem Wiesengrün, ganz am Ende einen auffällig geraden Strich Land; am Abend im Hafen das nördlichste Stück der mecklenburgischen Küste, blau mit weißen Flecken, handbreit, daneben ging das Meer einwärts am Großen und Kleinen Höved, hinter denen saß ungefähr Jerichow. Hinter dem Küstenknick am Landende war die Bucht zu übersehen, rechts die Westseite, ihr gegenüber, unverbunden, die Ostseite unter dem tintigen windüberjagten Wolkenhimmel, ungleichmäßig, mit Höhen wie Steilufervorsprüngen, Einbuchtungen wie Häfen, nadelfeinen Spitzen wie Kirchtürmen, Rissen wie lauernde Wachboote. Wenn ich die Augen schließe ist die Erinnerung genau. Das ähnliche das fremde Gedröhn.
     
    –
Kommt die Eiche vor der Esche, gibt’s ne große Wäsche. Verstehssu ja, Gesine. Aber, kommt die Esche vor der Eiche, gibt’s ne große Bleiche, wie 1953. Heut nachmittag hab ich mir meine großen Eichen angesehen, die sind bald grün. Die Esche steht da wie taub! Am 1. Mai haben wir früher, ich bin ja nu älter als du Gesine, haben wir früher Holzpantoffeln und Strümpfe ausgezogen, Schuhe gab’s keine, bloß sonntags, sind wir barfuß zum Distelstechen gegangen in den Roggen. Heut möcht’n sich Hantschn anziehn. Früher fing der Winter in Oktober an und ging bis Februar, doch, und Schnee! Sind wir auf den Knicks zur Schule gegangen, und wenn einer abrutschte im weichen Schnee, waren wir über ihm doppelt so hoch wie wir bloß lang waren. Jetzt dauert der Winter viel länger. Am Erssn Mai muß sich im Roggen eine Krähe versteckn können! Jetzt sühst noch de Mus lopn! Nein, und wir haben auch nur noch eine Heuernte. Früher die erste, Anfang Juni, und die zweite, Anfang August, was ihr wohl Grummet nennt, wir sagn da Nachmahd zu. Wer füttert denn Heu noch heute. Will mal sagn, das hat sich verschoben mit den Jahreszeiten. Sint allns die Atombomben an schuld. Das gibt kein Sommer. Hast di dacht! – Du seggst jo nicks, Gesine.
    – Worüm süht Ein’ Meckelnbörg so klår?
    – Das liegt anner Feuchtigkeit der Luft. Aber die da drüben, ich mein dein Vater, die haben heut morgn unser Wetter gekriegt.
     
    Da blieb die Cresspahlsche Cousine nur einmal über Nacht. Die Nähe, da sie unbenutzbar war, sie schnitt.
    – Denn Heimweh ist eine

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