Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Herrn Vater wollen Sie uns ein paar Zugeständnisse anrechnen. Was wir ihm im April draufgelegt haben bei den Preisen für Lebensmittel, es soll ungültig sein ab 15. Juni, nächsten Montag schon. Auch werden wir auf dem Rathaus von Jerichow Bescheid sagen, daß Herrn Heinrich Cresspahl, Ziegeleiweg, ab sofort wieder Karten für bewirtschaftete Waren zustehen.
Nun sagen Sie mal an, junge Frau. Kommen Sie nur; wir werden tun, als seien Sie bloß auf Ferien gewesen. Sollten wir schon was beschlagnahmt haben von Ihren Sachen, wir geben es zurück. Oder leisten Ihnen Ersatz. Lebensmittelkarte, Deutscher Personalausweis, alles sollen Sie haben. Bitte kommen Sie in Begleitung Ihrer Freundin Anita, Frl. Cresspahl!
Dies waren einige Vorschläge, die die Einheitspartei des ostdeutschen Sachwalters an Cresspahls Tochter richtete für den Fall ihrer Rückkehr.
Sie verbrachten die Sommermonate des Jahres 1953 im Stadtbezirk Grunewald von Westberlin, Fräulein Cresspahl?
Da Sie das bereits wissen. Bitte.
In einer Villa im Grunewald?
In einem Haus, das vom ersten Stock an eine Ruine war.
Möchten Sie uns die Straße angeben?
Vergessen.
Die Namen Ihrer Gastgeber?
Sind mir entfallen.
Der Hintergrund Ihrer Beziehungen zu diesem Haushalt?
Wissen Sie doch. Ein Hund namens Rex. Oder King. Oder Woshd; wie Sie wünschen.
Wie kann ein Hund vom Jahrgang 1933 zwanzig Jahre später noch was ausmachen?
Ich hab ihn gesehen vor seinem Tod. Ein eigensinniger Patriarch von einem Schäferhund, schwarzgrau am ganzen Leibe. Tat beim Ausgehen, als könne er doch noch sehen. Ist 126 Jahre alt geworden nach menschlichem Ermessen.
Demnach sind Sie spätestens im Jahre 1951 in Berlin gewesen, um vermittels verbrecherischen Umrechnens in westlichem Bargeld Artikel des Tischlerbedarfs zu erwerben?
Aus Freundschaft zwischen den Familien.
Wegen gemeinsamer Anwesenheit mit einem Hund auf Familienfotos? Statt wegen handelnder Freundschaft im Jahre 1944, 1947, 1949, 1951?
Dazu verweigere ich die Aussage.
Bloß wegen guten Andenkens an Cresspahl gibt man Ihnen da eine Kammer, ein Frühstück, einen Hausschlüssel, ein Taschengeld?
Sehen Sie mal an.
Das sollen wir Ihnen abnehmen?
Sie können es mir auch lassen.
Anita schrieb Adressen zur Ferienzeit, für Kaufhäuser und Werbefirmen, das Stück zu einem halben Pfennig West, bis sie herankam an Leute, die boten ihr eine Mark pro Seite für Übersetzungen aus dem Russischen. (Was das für Kümmeltürken waren, wir schweigen uns besser aus über sie; sagen wir: sie wünschten die Arbeit getan für das Referat Kulturelle Zusammenarbeit bei der Kommandantur der Französischen Armee in Westberlin. Das muß genügen.) Wann immer Anita Zeit übrig hatte, waren wir am Stadtbahnhof Nikolassee verabredet für das Strandbad Wannsee. Wir mußten sehen, »daß wir mehr die billigen Freuden benutzten«; für Besuche in Kinos oder Theatern waren wir zu arm. Dauerhaft, ob wir nun die Havel abschwammen nach Nord und Süd oder ich bei Anita in Neukölln übernachtete auf Frau Machates Bügelbrett, unbeirrt war Anita verwundert, daß ihre Freundin Cresspahl schon wieder einen Grund ausgedacht hatte, von dem aus führte ein verständiger Weg zurück nach Jerichow oder zur Martin Luther-Universität. Einmal war es die Erinnerung an die Nachricht, daß im April alle jüdischen Ärzte, denen Stalin eine Verschwörung nachgesagt hatte gegen die Sowjetunion, gänzlich entlassen waren in eine fachliche und staatsbürgerliche Unbescholtenheit. Konnte man daher eine Linie ziehen zu einer künftigen Rechtssicherheit in der ostdeutschen Republik?
– Erzähl das den beiden, die gestorben sind unter der Folter, Kogan und Etinger! sagte Anita. – Erzähl das den jüdischen Schriftstellern, die er noch hat erschießen lassen im vorigen Sommer, der Blutsäufer! sagte Anita.
Stalin sei doch gestorben am 6. März: gab die Cresspahl zu bedenken.
Und wie sei ihr zumute gewesen, als die ostdeutschen Wochenschauen in den Kinos von Halle die Funeralien aus Moskau zeigten, die ostdeutschen Veranstaltungen von Trauer mit gesenkten Fahnen und untröstlicher Musik?
Die Cresspahl gestand zu, daß der Anblick auch ihr eine Betroffenheit ins Gefühl geschmuggelt habe, die sei ihr widerlich gewesen.
So ist das Ableben Stalins, das die ganze fortschrittliche Menschheit mit tiefem Schmerz erfüllt, ein besonders schwerer Verlust für die deutsche Nation? Die Sozialistische Einheitspartei wird der siegreichen Lehre Stalins stets die Treue
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