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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Geschicklichkeiten von Hitlers Chefdolmetscher dir geläufig sein mußten wie die Sprüche Salomos. Da wurden die Schüler zu Diplomaten, wenn sie hinüberwechselten aus dem Naturschutzpark eines Pensionsberechtigten in die freie Wildbahn der Aktiven. Viel abgebrochene Riesen darunter. Schmalspur-Akademiker. Einer wurde mir gezeigt, der kam aus einer Dolmetscher-Kompanie, der hatte für Hitlers Abwehr gearbeitet, ehemals Schauspieler in Leningrad; Hände weg. Ein anderer, im Suff brüstete der sich mit Entführungen; deswegen machte ich einen Bogen um das Fach Russisch. Italienisch, Französisch, ja. Wenigstens lernten wir reden, sprechen; zack-zack: wie Emil Knoop sagen würde. Und alles hatten Herr Dr. Kliefoth und zwei Semester in Halle eben kaum heilen können, was übrig geblieben war von einem Unterricht bei Hg. Knick. Knickei. Der hatte uns doch verabschiedet mit dem Befund: Der Gebrauch des Passivs ist im Englischen recht häufig. Das war’s denn. Viel remedial teaching.
    – Simultan dolmetschen.
    – Das ist ein Klacks, das mach ich dir im Halbschlaf. Nein, das Konsekutive ist die Kunst, die Hohe Schule des Dolmetschens à la Konferenz; wenn du eine dreiviertel Stunde lang einen Vortrag so übersetzen und sprechen kannst, als hättest du selber ihn entworfen. Hier hast du einen von meinen verfehlten Berufswünschen: als Mitglied gewählt zu werden in die A. I. I. C., die Association Internationale des Interprètes de Conférences. Die nehmen einen erst nach zweihundert Tagen Konferenz, und fünf Kollegen sollen für dich bürgen. Dafür hätt ich zehn Semester bezahlen müssen am Rhein bei Schifferstadt, statt meiner sechs, von denen mir noch zwei sind erlassen worden.
    – Womit hast du bloß bezahlt, Gesine? Kommst an und hast noch fünf Mark in der Tasche. Einen Dollar und fünfundzwanzig Cent.
    – Es werden so fünfundsiebzig Cent gewesen sein. Die Schülerin Cresspahl hätte gearbeitet in der Küche jenes Instituts, mit Freuden; es hätte sich verlaufen unter den fünfzehnhundert Studierenden; galt für unschicklich. Hier hast du unsere Legende vom Tellerwäscher: in Mannheim stand nächtens hinter der Schranke einer Garderobe die Schülerin Cresspahl und bedankte sich für jeden Groschen, den man ihr auf den Teller legte. Kamen von der Schule zu Gast die Rheintöchter, die Erbinnen aus den großen Häusern von Düsseldorf oder aus Südamerika, die fanden es im dritten Semester noch witzig zu sagen: Yes – yes, oder: I don’t have it necessary; beschwerten sich bei der Direktion; wegen Unschicklichkeit. In einer Nachtbar sollen die Gläser öffentlich gewaschen werden. Das nächste war die Nachtschicht in einer Fabrik für Spielzeug und Gartenzwerge. Und wenn ein Dozent etwas geschrieben haben will, übersetzt, dann fragen Sie mal die Cresspahl; die nimmt einen deftigen Stundenlohn; das ist vorlagereif wie die das macht. Noch später war sie gefragt in jenem nördlichen Viertel von Frankfurt, wo die Straßen nach Schriftstellern heißen, von Franz Kafka über Franz Werfel und Stefan Zweig bis zu Platen, da wohnten die Familien der amerikanischen Besatzer und gingen nachts aus und ließen ihre Kinder behüten von einer Miss Cresspahl für deutsches Geld; die wollte von den Kindern Kinderreime lernen und Märchen und wie man auf amerikanisch befiehlt: Auf die Plätze – fertig – los! Und im letzten Semester, als ihr das Diplom sicher war, schien es gerechtfertigt, ihr das Abhalten von Übungen zu bezahlen.
    – Du hast wieder gehungert, Gesine!
    – Aus eigenem Verschulden; wenn ich doch eine Schreibmaschine brauchte. Auf die wissenschaftliche Art; mit Quark und Schwarzbrot alle zwei Stunden; mit Gymnastik geht das zu machen.
    – Und zwei Zigaretten am Tag.
    – Rauchen fiel aus bis 1955.
    – Und Heimweh nach Jerichow, nach Gneez.
    – In Gneez hatte ich die Maiparade von 1953 angesehen, da marschierte Bewaffnete Volkspolizei vorbei an der Tribüne auf dem Neuen Markt, die schwenkte die Glieder in der bräunlichen Uniform, die Beine in den kostbaren Stiefeln zur Parade (und hielt sich fest am Karabinerriemen, wäre sonst umgefallen); da schrie der Genosse vom Kreis, als hätte er Messer an den Stimmbändern: Und mag es heute noch heißen Dü-dü-Äh -; im nächsten Mai werden wir sagen können: Geh-düdü-Äh! Das war eine verspätete Entschlüsselung für den Spruch Goethes, der bei rein schulischen Veranstaltungen sichtbar gewesen war an der Stirnwand der Aula:
    MIR IST NICHT BANGE, DASZ

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