Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
wahren? Stets?
Es sei ein Versprechen: gestand Anitas Freundin.
Nun hätte Anita sagen dürfen: Siehste. Aber sie enthielt sich des Beratens; aus Fürsorge ließ sie sich von dem wankelmütigen Kinde Cresspahl die Papiere vorlegen, prüfte sie auf Lücken, auf Gültigkeit. – Technisch wärste sicher auf einer Fahrt nach Halle, bis zehnten September: entschied sie, tief aufatmend; ein Seufzer war es geradezu. Anita und die Freiheit eines Christenmenschen.
Den 16. Juni verbrachte stud. phil. Cresspahl an der Havel; als sie am 17. die Radionachrichten von einem Aufstand im Ostsektor der Stadt nachprüfen wollte durch Augenschein, wurde die Straßenbahn 88 an der Lützowstraße aufgehalten, wo sie die Potsdamer verlassen soll und die Grenze zum Ostsektor abfahren bis Kreuzberg; von westberliner Schupo, die die Straßen voller Schaulustiger eine nach der anderen in Richtung Süden abzuräumen suchten, vergeblich. (Zu einer Reise nach Ostberlin mit der Stadtbahn fehlte ihr der Übermut; die Bahnhofskontrollen konnten sie leicht früher abschieben nach Halle/Saale, als ihr recht war.) So kennt sie den Aufstand lediglich als Nachricht, in Wort wie Abbild; als Hörensagen von Studenten aus Halle, die es schafften bis in die Flüchtlingslager von Westberlin:
Vor der Strafvollzugsanstalt II in der Steinstraße standen zweihundert oder dreihundert Frauen, die riefen: Gebt unsere Männer frei. Das sah eine Kolonne streikender Arbeiter, die aus den Werken von Buna und Leuna anmarschiert kamen; die stürmten das Tor, holten die Gefangenen aus den Zellen, viele davon Frauen, in üblem Körperzustand. Die Arbeiter räumten das Gerichtsgebäude aus. Eine Wachtmeisterin fuchtelte mit der Pistole; wurde verprügelt. Die Kreisleitung der Einheitspartei in der Willy Lohmann-Straße, die Bezirksleitung am Steintor, die Kreisleitung am Markt: gestürmt. An den Toren des »Roten Ochsen«, am Kirchtor, wartete Volkspolizei mit entsicherten Schußwaffen. Die Menge drückt eine Nebentür ein; wird vom Dach her beschossen; zerstreut sich. Hier soll es Verwundete gegeben haben. Das Hauptpostamt blieb seit dem Morgen in der Hand der Polizei. Gegen achtzehn Uhr warten etwa dreißigtausend Menschen auf dem Hallmarkt. Die Forderungen der Redner: Generalstreik gegen die Regierung; Loyalität gegenüber der Roten Armee. Disziplin. Strafe für Hamsterkäufe, Plünderungen, Tötungen. Rücktritt der Regierung. Freie Wahlen. Wiedervereinigung mit Westdeutschland. Gegen neunzehn Uhr rollen vom Obermarkt her russische Panzer an; vorsichtig. Zu den Papieren, die aus den Fenstern der gestürmten Behördengebäude geflogen waren, flattert inzwischen ein Flugblatt, unterzeichnet vom Chef der Garnison und Militärkommandanten der Stadt Halle (Saale), der den Ausnahmezustand verhängt, Demonstrationen und Versammlungen verbietet, den Aufenthalt auf den Straßen von einundzwanzig bis vier Uhr untersagt, für den Fall von Widerstand den Gebrauch der Waffe androht.
Von dem Einmarsch der streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter in Halle gibt es eine Fotografie. Sie erfaßt etwa neunzig Leute vollständig, die Frauen in Sommerkleidern, die Männer meist wie fürs Arbeiten angezogen, in dunklen oder grauen Overalls oder Hemd und Hose. Sie gehen in ungeordneten Reihen, mit schwingenden Armen, ein paar winken einander zu (der Kamera unbewußt). Zwei sind mit Taschen gekommen. Auf dem Bild sind allein elf Fahrräder zu sehen; wie hätten sie denn so teure Maschinen mit sich geführt, wenn sie Gewalt zu stiften im Sinne trugen, oder Gewalt zu erleiden erwarteten?
Am 21. Juni unterbreitete das Zentralkomitee der ostdeutschen Einheitspartei der Bürgerin Cresspahl einen zusätzlichen Vorschlag für den Fall ihrer Rückkehr: Der Aufstand in ihrer Republik, er müsse begriffen werden als bloß Ereignisse. Als das Werk der amerikanischen und (west)deutschen Kriegstreiber, die in ihrer Enttäuschung über die Gewinne der Friedensbewegung in Korea wie in Italien einen Kriegsbrand hätten hinüberwerfen wollen über den Brückenkopf Westberlin … überführt durch das Absetzen von Banditen mit Waffen und Geheimsendern aus ausländischen Flugzeugen … durch Lastwagen mit Waffen an der Autobahn Leipzig-Berlin …
Aus Gneez wurde ihr geschrieben, daß die Arbeiter des Sägewerkes Panzenhagen die Keller unter dem Landgericht geöffnet hatten mit dem Ruf: Wir wollen unseren Ausbeuter wiederhaben! Sie maßte sich an, bescheidentlich, sie kennte die Arbeiter denn doch vom Sehen
Weitere Kostenlose Bücher