Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
besser als der ostdeutsche Sachwalter das sagen durfte von sich, an ihren Beschwerden: die Rücknahme der Verkürzungen für Eisenbahnfahrkarten, die Beschwerden in der Familie durch Herabsetzung der Mindestrenten, die Anrechnung von Heilkuren auf den Jahresurlaub, die Verseuchung der Arbeitszeit durch Spitzelei, das travailler pour le Roi de Russie, bekräftigt durch das Bestehen der Einheitspartei auf einer zehnprozentigen Erhöhung der Normen noch am Morgen des 16. Juni. Sie wäre zurückgegangen, hätte nun jedermann von Gneez bis Halle sagen dürfen: wir haben gesehen, wer in diesem Lande regiert; die Sowjets. Wenn sie sich entschloß zu einer Abreise, so kaum, weil im jenseitigen Deutschland die Amerikaner regierten als Besatzungsmacht; sie fürchtete sich vor der Aufforderung, an der Saale in einem Seminar der Universität etwas aufzusagen von einem Tag X, an dem jemand anderes als die Arbeiter …
Daß sie vorstellig wurde im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde, die Erinnerung bietet es an; besteht darauf. Der dies schreibt möchte zweifeln, ob das schon benutzt wurde im Juli 1953. Das Gedächtnis will, es sei im Bau gewesen seit dem 4. März. Ob nun in Marienfelde, in der Kuno Fischer-Straße oder am Karolinger Platz, sie traf da zum ersten Mal auf einen jungen Mann aus Wendisch Burg, einen hageren steilköpfigen Jungen mit damals blondem Haar, der in einer abwesenden Art ihr Bekanntschaft antrug aus einem Umgang mit den Fischer- und den Lehrer-Babendererdes, auch den Niebuhrs in Wendisch Burg. Auf einem Spaziergang im Viertel von Dahlem, der westberliner Universität, betrachtete er abschätzig die hiesigen Studenten und nannte sie »all diese schönen jungen Leute«; anfangs hielt sie ihn für eingebildet wegen seiner älteren Semester (Physik). Sie beschrieb ihre Verwunderung, daß Klaus Niebuhr seine Schule, seine Unterkunft in Mecklenburg aufgab allein aus einem Konzept, wonach er auf seine Bürgerrechte verzichte, werden sie einem Mädchen namens Rehfelde gekränkt. Das freute diesen Erichson (Dipl. phys.); auf der Stelle wies er dem Fräulein Cresspahl ein verwandtes Verhalten nach. – Seit fünf Jahren lassen Sie sich ein auf den Abstand zwischen dem, was Sie denken und den Sachen, die Ihnen die Lehrinstitute so abfordern durften bisher; nun er ein bißchen größer geworden ist als Ihnen gefällig, haben Sie es satt; schon mal vom dritten Grundsatz der Dialektik gehört, Umschlag von Menge in Qualität? kann man auch somatisch verwenden: sagte der als Antwort auf ihre Ausrede, ihr sei eben schlecht. Eine Werbung war es kaum. Der ließ sich ausfliegen, ehe sie noch die Vorprüfung I erreicht hatte im Verfahren der Notaufnahme.
Die amtliche Befragung wurde widerlicher von Büro (»Stelle«) zu Büro. Der ärztliche Dienst befand sie als eine Zwanzigjährige wie sie ihm keine Sorgen macht. Zuständig war Stelle Zwei, die über Zuständigkeit befand. Nach der Einweisung, der Polizei, der Anmeldung kam Stelle 7, die Vorprüfung durch die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit. Denen wie den nächsten, dem Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen mißfiel diese Studentin, da sie ihnen die Beihilfe bei dem Urteil gegen Sieboldt und Gollantz anrechnete als eine Schuld und sich obendrein belustigte über Appelle wie den, die Menschen in der »Sowjetzone« sollten ihren Widerstand bekunden, indem sie an einem beliebigen Mittwoch den Besuch der Kinos vermieden; worauf denn doch jedermann, seinen politischen Leumund zu bekräftigen, die Renaissance-Lichtspiele von Gneez aufgesucht habe. Hier bekam sie Verweise, schlechte Noten; das merkte sie auf der Stelle 7c, dem Polizeipräsidium, Abteilung V (politische Abteilung); wurde angeblickt wie eine schlechte, eine widerspenstige Schülerin. Für 7d, die Abwehr der Briten, ließ sie sich von Anita vorbereiten mit einer Auskunft über das Haftarbeitslager in Glowe auf Rügen, wo etwa viertausend Zwangsarbeiter für Margarinestullen und Kartoffelsuppe schufteten an einem Ringbahnnetz mit vier Rollfeldern für Düsenjäger und Bomber, an einem Kriegshafen für Unterseeboote und leichtere Überwasserfahrzeuge; es war eines von den gängigen Gerüchten in Mecklenburg. (Zum Schaden für sowjetische Strategie; sie nahm immer noch die Roten Ecken auf den öffentlichen Plätzen übel, Stalins Ikonenwinkel. Sie war mit Anita einig, die Sowjets hätten ihre Panzer am 17. so behutsam nur eingesetzt, weil sie Reservegerät und Truppen erst noch heranbringen wollten für
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