Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Delikatessenläden an der Graf Adolf-Straße von Düsseldorf, ohne Neid. Wohl, zehn Sorten Brot den täglichen Tag, er wünschte es auch für sein Land; oder das Land, aus dem er kam. Wenn wir vorbeikamen an einer Baustelle und sahen Ziegelsteine abgeladen wie Porzellan so sachte, verpackt in festes Papier, sechsfach verschnürt, er seufzte. Ja, er hat geknurrt, weil die Bahn in der westlichen Republik die Schnellzüge fuhr auf einen einzigen Mann. Oder weil die Züge unverhofft anruckten, sanft ohne Warnung. Er war zu Besuch, Cresspahls Tochter wegen. Manches hat ihm Spaß bereitet. So eine freudige Olsch, dick gesessen in der Kinokasse, die schreitet vor dem Hauptfilm noch einmal durch die Gänge mit einer Aromaspritze, die Gäste zu betäuben mit Stinkschwaden. Humphrey Bogart in The Desperate Hours, an einem Tag wie jedem anderen. Der Text zum Pausenzeichen des Norddeutschen Rundfunks: »Ist die G^%’e- bühr b^%’ezahlt?« Wie zwei Kinder da stritten mit einander: Persianer ist bloß so ein Schaf; du bist eines, meine Mutter hat einen. Bekümmert, wenn auch bloß mit einem Schaudern in den Schultern, machte ihn der Auftritt eines ausgewiesenen Charakterschauspielers, der verwandelte in der Filmreklame ein Gespräch am Telefon in den Gebrauch und die Empfehlung eines Rasierapparats; fürs liebe Geld. Wenn Jakob etwas von neuem erkannte an mir, krochen ihm Lächelfalten in die Augenwinkel; weil ich wie bei Pottel & Broskowsky am Waisenhausring von Halle, so im Park-Hotel am Corneliusplatz in Düsseldorf die Rechnung bestellte ohne ihn zu befragen; er war in meiner Stadt, er war mein Gast.
– Er hätte bleiben können.
– Was wir beredet haben für das Jahr danach bis 1983, Veranstaltungen im Unsichtbaren, Aufbauten in einer Zukunft, es sind nunmehr Geschichten wie die, da fallen kleine Kinder in eine Wassertonne; da hängt es an den Fäden einer Minute, ob einer kommt und rettet sie.
– Gelernt ist gelernt, Gesine. Sag du es.
– Fährt zurück an die östliche Elbe, geht bei Morgennebel über ein Gleisfeld, das verwaltet er seit zwei Jahren, wird von Zugbewegungen erfaßt, stirbt unter dem Messer. Das Begräbnis hat Cresspahl ausgerichtet. Frau Abs und seiner Tochter gab er erst Bescheid, als Jakob unter der Erde war. Das war für die eine gesund; für die andere ein Schaden. Die eine hat versäumt, sich umzubringen. Sie wünschte erst klar Schiff zu machen, reinen Tisch. Das ist so eingerichtet, damit jemand überlebt. Als der Selbstmord mir verboten wurde, war er beinahe vergessen.
– Wer hat denn dir etwas zu untersagen, Gesine!
– Das war eine kräftige Person. Wenn ich ihr einen Finger in die Handfläche steckte, machte sie eine Faust; einen Meter hoch im Freien schwebte sie an ihrem festen Griff. Eine zufriedene Person, schlief ausdauernd, wachte auf mit leisen Kehllauten. Vier Wochen später sah sie mich an, als vertraute sie mir. Im dritten Monat kannte sie meine Stimme; erwiderte das Lächeln einer kommunistischen Witwe aus Flingern-Nord. Im Oktober 1957 hörte sie mir zu; tat einverstanden mit ihrer Stimme. Am Martinstag wandte sie den Kopf dahin, woher meine Stimme kam. Zu Weihnachten blickte sie mit beiden Augen in die gleiche Richtung. Im Neuen Jahr beginnt sie zu sprechen; sie läßt sich ein auf das Übliche: ja, ja, mei, mei; sieht ihre Großmutter freundlich an, jedoch fremd. Im Februar lachte sie, als eine Flasche umfiel; wenngleich’s die ihre war. Ist stolz auf ihr Spielzeug; besitzbewußt. Im April verkroch sie sich unter meiner Schürze, als Cresspahl in die Tür trat. Im Mai versuchte sie aufzustehen. Im Juni verstand sie den Weg auf den Südfriedhof, in den Hofgarten; warf Spielzeug aus dem Bett, damit die Mutter es ihr zurück bringe. Im Juli kroch sie über Stufen, richtete sich auf für Augenblicke, kannte ihren Namen.
– Fast, als hättest du mich gern gehabt.
– Für dich war der Unterschied zwischen gut und böse abgeschafft; weswegen im Norddeutschen die Mütter von ihren Kindern sagen: mein Herzschlag. Sünt je dumm Lüd, so’n Mauder; holln ehr Kint uppe Hüft un ropn: Wo bissu denn, wo bissu denn, min Häuneken? Wir lebten in einer Symbiose; wenn du dir das nachschlagen möchtest; was wir abschaffen werden. Du wurdest krank, es mußte mir nur ein wenig jämmerlich gehen.
– Gelernt ist gelernt, Gesine. Sag es nur, wenn du willst.
– Als wir im September vorbeikamen an unserem Haus mit den gesträubten Brauen, waren die Instrumente geschliffen, der Patient
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