Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
du tagsüber erzogen worden von einem Kindergarten, statt von einer Großmutter. Die sah dich an, Jakobs Kind; die Augen gingen ihr über. Sie war besorgt, ihr Kummer könne dir schaden. Wollte allein leben und sterben und ist begraben hinterm Schloß in Hannover.
– Warum fehlt das in meiner Erinnerung?
– Weil es dir vorenthalten wurde.
– Warum ging Cresspahl zurück nach Jerichow? hätte doch bleiben können bei uns.
– Bi’t Starben sünt wi all Meisters un Lihrjungs. Er wollte das alleine abmachen. Bloß keinem lästig fallen; und wenn’s die eigene Tochter ist. Sein Versprechen hielt er: in die beiden Zimmer, die Jakobs wegen von der Deutschen Reichsbahn verwaltet wurden, nahm er Jöche und Muschi Altmann auf. Da war keine Gefahr,
Dat ick hier dotbliev un kein Ein süht mi sittn
De oll Lüd seihn am wietsten in de Fiern.
– Bin ich eine vermögende Partie bei meiner Mündigkeit?
– Für fünf Jahre Studium langt es.
– Und doch, Gesine. Hättest du es benutzen dürfen zu einer rechten Zeit.
– Für mich wär es dreimal zu viel gewesen. Jedoch er gab mir etwas ab: für das Kind. Ein Kind, mit der Mutter zurückgefallen in eine Untermiete, weil der Kommerz in den westdeutschen Altstädten in Dutt schlägt, was die Bomben verschont haben; wie kann ein Großvater das dulden! Er richtete eine Gartenwohnung ein am Lohauser Deich; dem Kind zuliebe. Er bezahlte die Miete ein Jahr im voraus, da die Mutter noch einmal eine Lehre begann, in einer Bank; dem Kind zuliebe.
– Ein Auto hätt er dir schenken sollen.
– Das bezahlte ich alleine, als du zu sprechen anfingst; war es mehr zufrieden. Bei einem Großhändler, der pries seine Kutschen an mit dem Zeichen der (zweiten) Hand. Auto mußte sein. Heute unverständlich.
– Wir sind unterwegs gewesen nach Dänemark.
– Du hast als kleines Kind Italienisch gesprochen, und Französisch.
– Nie nach England. Deines Vaters wegen.
– Wüßte ich das Hindernis, ich zeigte es dir.
– Die Ferien in London mit D. E., die haben dich kuriert.
– Thank you, Doc.
– Nun will ich dir ernstliche Vorhaltungen machen. Düsseldorf ist deine Stadt geworden, so wie Berlin für Anita.
– So wie die Niebuhrs es von Stuttgart denken.
– Wenn du dir etwas gönnen möchtest, gehst du essen in den Hauptbahnhof von Düsseldorf. Wenn eine Brücke eingeweiht wird in Düsseldorf und benannt nach einem Bundespräsidenten, murrst du gegen den alten Herrn, und gehst hin. Es ist deine Brücke. Was Heinrich Heine über Düsseldorf geschrieben hat, es ist dir eben recht. Du schämst dich für die Stadt, wenn sie diesen Heine verleugnet. Unverhofft machst du dich auf die Socken nach Amerika, ein schutzloses Kind unter dem Arm! Gesine!
– Das war die Angestellte Cresspahl. Die mußte beschenkt und belobt tun, wenn ihr zwei Jahre zur gehobenen Ausbildung angeboten werden bei einer »uns befreundeten« Bank in Brooklyn, New York. Fügsamkeit hat ihren Lohn; vielleicht würde eine Kündigung nun später eintreffen. Aus Schicklichkeit zierte sie sich ein wenig; heimlich war sie erleichtert.
– Bis heute hast du mich glauben lassen, New York sei mein Entschluß!
– Es ist dein Entwurf. Der Crédit Lyonnais oder ein Institut in Milano, mir war es eins. Ich wollte aus dem Land, für eine Weile. Am Weihnachtsabend 1959 war in Köln, in der Nachbarschaft, eine Synagoge mit Hakenkreuzen beschmiert worden und mit Sprüchen: »Deutsche fordern Juden raus«. Dora Semig ließ ihren Mann aufbieten; er möge sich vor dem Amtsgericht Hamburg melden bis zum 2. September 1960; widrigenfalls er für tot erklärt werde. Das war das eine.
– Mir reicht es.
– Das andere war die Karriere eines Politikers in der westdeutschen Republik. Nun werde ich dich langweilen.
– Nur damit ich niemals bestreiten kann, du hättest es mir gesagt, und zwar an Bord einer South Ferry, im Hafen von New York, nachmittags, Kurs auf Manhattan.
– Ertrag es. Als junger Mann ist er im Studentenbund der Nazis gewesen. Als er zweiundzwanzig Jahre alt war, bewarb er sich um Aufnahme in deren Kraftfahrkorps, erbrachte die Voraussetzung: politisch zuverlässig; Bereitschaft immer tiefer in das nationalsozialistische Gedankengut einzudringen. Im Krieg war er »Offizier für wehrgeistige Führung« an einer Flakschule im Bayerischen; Voraussetzung: aktivistischer Nationalsozialist. Nach dem Krieg gab er sich aus als Widerstandskämpfer; er hatte das Sagen beim Entnazifizieren im Bereich Schongau, als
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