Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
abflogen nach Paris, sahen wir Anita auf ihrem verlorenen Balkon, die winkte.
– Und nun auf die France, ab nach New York!
– Jedoch weiß ich von einem Kind, das konnte noch lange aufzeichnen, wie die Möbel gestellt waren an den Gartenfenstern von Düsseldorf. Das den Tränen nahe war, wenn sie zurückdachte zu einem Kindergeburtstag, da sang ein Chor: Du bist jetzt Drei! Du bist jetzt Drei!
– In New York wurde ich vier. Endlich sind wir angekommen, wo meine Erinnerung Bescheid weiß. Welcome home!
18. August, 1968 Sunday
Cresspahls Tochter lebte in New York, als er starb im Herbst 1962. Amerika ist mir zu weit zum Denken. Fœundsœbentich is nauch.
Er versuchte auf dem Rücken liegend einzuschlafen. Er wollte nahe genug am Morgen gefunden werden. Sie sollten keine Mühe haben mit dem steifen Körper, weil er anders lag als er liegen sollte im Sarg. Früher hatten sie solchen die Knochen gebrochen. Aber es drehte ihn im Einschlafen auf die Seite, und wenn es nur der Kopf war. Morgens, wenn die Nacht dünner wurde im Gehirn, wandte der Kopf die Nase senkrecht. Schon fühlte er sich getragen, leicht gekippt in der Enge der Stubentür zur äußeren, endlich in der kühlen Wintersonne, gestreift von den kahlen Heckenästen. Das Stuckern auf dem Pflaster sandte sanfte Blutwellen hinter die Stirn, während er den Medizinalrat Prüss sagen hörte: In einer solchen Krankheit ist die Lebenslänge ungewiß.
Heute morgen sah die schlafende Tochter noch einmal zu, wie sie aufstand, sich aus dem Fenster hangelte auf den Riverside Drive, über das grünspanige Brückengeländer auf die Straße darunter. Aus Gehorsam gegen das ärztliche Aufgebot trug sie nur einen Mantel über dem Hemd. Zog die Wagentür hinter sich zu sacht wie ein Dieb, ließ die Räder in östlicher Richtung rollen zum Eingang des Tunnels unter dem Broadway, den bei Tageslicht die Untergrundbahn kreuzt. Inzwischen war sie eskortiert von lackschwarzen Karossen; gefangen. Die Fahrt ging wie auf Schienen; nur den Totmannsknopf mußte sie drücken. Als sie unter den Friedhöfen angekommen war, fand sie eine betonierte, kreisrunde Höhle ausgeweitet, gegliedert durch Kliniktüren. Hinter der ersten war die Kleiderkammer; da sollte sie sich umziehen für die Operation. Auf dem inneren Korridorbogen kehrten die Türen wieder; hießen Herz, Lunge, Nieren, Blut. An der letzten wurde ihr ein leichtes Paket ausgehändigt, die Reste der Sektion.
Den Tag noch einmal beginnen.
Um fünf Uhr morgens bringt die Rundfunkstation WNBC beliebte Stücke von Mozart und Haydn. Um sechs Uhr zieht WNYC nach mit Brahms, Requiem, und Schubert.
Ein arbeitsfreier Tag. An dem Marie eine Gesellschaft geben will für Kinder, zum Abschied.
19. August, 1968 Montag
Die Nummer 40 385 der New York Times.
Nachrichten aus Bogotá, Jerusalem, dem Irak, Cairo, La Paz, Peking, Biafra, London. Wer wird da zweifeln an einer Vollständigkeit. Gestern morgen wurde ein Personenzug der Vorortbahn von Long Island beschossen; ein junger Mann tot, ein anderer verwundet.
Die Pravda hat durchblicken lassen, was sie als Wahrheit gültig wünscht in Moskau: wenn Arbeiter in Prag die sowjetischen Truppen um ein Verweilen im Lande ersucht haben, sind sie einem »moralischen Terror« ausgesetzt. An jeder Ecke in Prag stehen Volksredner, sammeln sich Aufmärsche; alles subversive Aktivitäten antisozialistischer Kräfte. Damit das klar ist, ja?
Am westdeutschen Kanzler hält die Times heute für berichtenswert, die sanftmütige Platzanweiserin: er ist Boot gefahren auf dem Starnberger See und rettete einen Dackel vorm Ertrinken.
In Süd-Viet Nam haben Truppen des Nordens und verbündete Guerilla an neunzehn Orten angegriffen. Amerikanische Truppen unter Maschinengewehrfeuer wollen nur zehn eigene Tote verloren haben, schreiben den anderen fünfhundert an. Solche runden Zahlen.
Heute abend um sechs Uhr bringt Radio WNRV »Just Jazz« mit Ed Beach. Selbst wenn wir es aufzuzeichnen wünschten, wir versäumen es schon.
Als wir unterwegs waren nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika, war es gerade fünf Jahre her im April, da führte ein Stabsfeldwebel der Marineinfanterie (ein Bier, drei Schnäpse im Bauch) unerfahrene Rekruten in eine Wattenlandschaft von South Carolina, so daß sechs ertranken. Militärpolizei stand Wache vor den mit Fahnen bedeckten Särgen, als wären sie für die Nation ums Leben gekommen.
Darum hielt Marie noch vor einem Jahr uns für verpflichtet, jedwede
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