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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Wirtschaft. Ein richtiges Wort wirkt nur dann, wenn es ausgesprochen wird unter Bedingungen, die richtig vorbereitet sind. Richtig vorbereitete Bedingungen: darunter muß man bei uns leider unsere gesamte Armut verstehen und den völligen Zusammenbruch des zentralen Leitungssystems, in dem Politiker eines gewissen Typs in aller Ruhe und auf unsere Kosten einander bloßstellten. Bei uns nämlich siegt die Wahrheit nicht von allein, die Wahrheit bleibt einfach übrig, wenn alles andere verjubelt ist! Darum haben wir keinerlei Anlaß zu nationalen Siegesfeiern, lediglich einen Grund zur Hoffnung.
    In diesem Augenblick der Hoffnung wenden wir uns an euch. Sie ist weiterhin ständig in Gefahr. Es hat mehrere Monate gebraucht, bis viele von uns sich durchrangen zu dem Vertrauen, sie dürften nun ungestraft aussprechen, was sie denken. Allerdings, viele trauen sich dazu bis heute nicht. Aber wir haben schon so viel ausgesprochen, so viele von uns haben sich zu erkennen gegeben, daß wir die Humanisierung dieses Regimes ohne Abstrich zum Ende bringen müssen. Sonst stünde uns eine grausame Rache der alten Gewalten bevor. Vor allem wenden wir uns an diejenigen, die bisher bloß abgewartet haben. Die Zeit, die jetzt beginnt, wird über viele Jahre entscheiden.
    Die Zeit, die jetzt anfängt, ist ein Sommer, mit Urlaub und Ferien, und der alte Brauch könnte uns verleiten, alles liegen und stehen zu lassen. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß unsere lieben Gegner auf die sommerliche Entspannung verzichten werden. Sie werden die Leute auf die Beine bringen, die ihnen verpflichtet sind, damit sie sich schon jetzt auf ruhige Weihnachtsfeiertage verlassen können! Wir müssen aufpassen, was geschehen wird; wir müssen versuchen, es zu verstehen und es entsprechend zu beantworten. Laßt uns den unmöglichen Anspruch aufgeben, daß stets ein Höherer uns die jeweils einzig mögliche Erklärung einer Sache liefern kann, mit der einzig richtigen Schlußfolgerung daraus. Jeder wird seine Schlüsse selber ziehen müssen, auf seine eigene Verantwortung. Gemeinsame, übereinstimmende Beschlüsse kann man nur in einer allseitigen Aussprache fassen. Voraussetzung dazu ist die Freiheit des Wortes, die womöglich die einzige demokratische Errungenschaft bleiben wird, zu der wir es in diesem Jahr gebracht haben.
    In die kommenden Tage müssen wir jedoch mit eigener Initiative und mit eigenen Entschlüssen gehen.
    Vor allem müssen wir der Ansicht widersprechen, wenn sie überhaupt laut werden sollte, es sei eine demokratische Erneuerung ohne die Kommunisten durchzusetzen, im gegebenen Fall sogar gegen sie. Das wäre ungerecht. Noch mehr, es wäre unvernünftig. Die Kommunisten verfügen über eine gut ausgebaute Organisation, in der wir den fortschrittlichen Flügel unterstützen müssen. Unter ihnen sind erfahrene Funktionäre, sie haben, nicht zuletzt, die Hebel der Macht in den Händen. Ihr Aktionsprogramm steht vor der Öffentlichkeit. Dies Programm soll immerhin damit anfangen, die gröbsten Ungerechtigkeiten in Ordnung zu bringen. Niemand sonst kann ein solches Programm vertreten. Verlangen müssen wir, daß sie sich der Öffentlichkeit mit lokalen Aktionsprogrammen stellen, in jedem Bezirk, in jeder Gemeinde. Dann wird es plötzlich um sehr einfache und richtige Entscheidungen gehen, die seit langem erwartet werden. Die K. P. Č. bereitet den Parteitag vor, der ein neues Zentralkomitee wählen müssen wird. Wir fordern, daß es ein besseres ist als das bisherige. Wenn die Partei neuerdings behauptet, sie wolle ihre führende Rolle in Zukunft auf das Vertrauen der Bürger stützen und nicht auf Gewalt, so laßt uns das glauben nach dem Maß, in dem wir jenen Leuten Glauben schenken, die die Partei schon jetzt auf die Bezirks- und Kreiskonferenzen delegiert.
    In letzter Zeit sind die Leute beunruhigt, es könne der Fortschritt der Demokratisierung zum Stillstand gekommen sein. Dies Gefühl rührt zum Teil aus der Ermüdung nach den aufregenden Ereignissen der vergangenen Monate, zum anderen aber entspricht es einem tatsächlichen Sachverhalt: Die Saison bestürzender Enthüllungen, der Rücktritte in hohen Positionen und berauschender Aufrufe von unerhörter Kühnheit ist zu Ende. Jedoch vollzieht sich der Kampf der Kräfte nur auf einer anderen Ebene. Jetzt wird um den Inhalt und den Wortlaut der Gesetze gerungen, um die Reichweite praktischer Maßnahmen. Daneben muß man den neuen Leuten, den Ministern, Staatsanwälten,

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