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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Verhältnissen einzuführen. Diese Maßnahme für sich allein kann der Slowakei kein besseres Leben bringen. Mit getrennten Regierungen in der Slowakei und den böhmischen Ländern ist noch gar nichts getan. Die Herrschaft der partei-staatlichen Bürokratie könnte auch dann weiter bestehen, in der Slowakei um so eher, als sie dort ›eine größere Freiheit erkämpft hat‹.
    In der letzten Zeit entsteht ungewöhnliche Unruhe aus der Möglichkeit, daß ausländische Mächte in unsere Entwicklung eingreifen könnten. Angesichts aller Großmächte müssen wir uns damit bescheiden, ruhig unseren Standpunkt zu verteidigen und niemanden herauszufordern. Unsere Regierung muß von uns wissen, daß wir hinter ihr stehen, wenn nötig mit Waffen, solange sie nach dem Auftrag unseres Mandats handelt. Unsere Verbündeten können versichert sein, daß wir unsere Bündnis-, Freundschafts- und Wirtschaftsverträge einhalten werden. Gereizte Vorwürfe und unbelegte Verdächtigungen tun nichts, als die Stellung unserer Regierung zu erschweren, statt ihr zu helfen. Beziehungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung sind für uns erst dann möglich, wenn wir die Zustände im Inneren verbessert und den Prozeß der Erneuerung so weit geführt haben, daß wir uns eines Tages Politiker wählen können, die so viel Standhaftigkeit, Ansehen und politisches Können besitzen, daß sie solche Beziehungen für uns auszuhandeln und einzuhalten imstande sind. Übrigens ist das ein Problem, mit dem die Regierungen aller kleineren Staaten in der Welt ihre Mühe haben.
    In diesem Frühling haben wir von neuem, wie nach dem Kriege, eine große Chance bekommen. Von neuem haben wir die Möglichkeit, unsere gemeinschaftliche Sache, die den Arbeitstitel SOZIALISMUS trägt, in die eigenen Hände zu nehmen und sie in einen Zustand zu bringen, der unserem einst guten Ruf und der verhältnismäßig guten Meinung entspräche, die wir ursprünglich von uns hatten. Dieser Frühling ist eben zu Ende gegangen, er wird nicht wiederkehren. Im Winter werden wir wissen, woran wir sind.
    Damit endet dieser Aufruf an die Arbeiter, Bauern, Künstler, Wissenschaftler, Techniker und an alle. Geschrieben wurde er auf Anregung der Wissenschaftler.«
    An diesem Tag erschien die Angestellte Cresspahl verspätet zum Dienst. Pflichtvergessen besuchte sie erst einmal die Italienische Delegation bei den Vereinten Nationen, ohne Einladung, ohne telefonische Anmeldung. Signora Sabatino mochte nicht recht glauben, daß es in Person einen Menschen gibt, den sie doch nur aus der Adressenkartei für Cocktails zweiten Grades kennt. Auf den Empfängen aber serviert sie, sieht jedem Gast aufmunternd ins Gesicht, stumm aber so deutlich, daß Einer zu hören glaubt: Na? Nicht doch noch ein Stückchen? So ein kleines? Dieses?
    Es war ja nur eine Frage. Wie soll eine prager Zeitung von gestern heute schon in New York sein. Die, wissen Sie, die heute in der Times …
    – Ma! rief Frau Sabatino mit einem Mal. – Ma abbiamo quattro edizioni del questo manifesto! La Práce, Zemědělské Noviny e Mladá Fronta! Anche le Sue Literární Listy! Signora, legen Sie doch Ihren Mantel ab! Sie sind naß im Haar! Sie sind die Dame, die die Briefe schickt für Signor Karresh! Nicht wahr, nun werde ich Sie melden bei Seiner Exzellenz Dr. Pompa, er ist schwer beschäftigt, er hat gar nichts zu tun. Zwei Minuten, und ich komme stören mit Kaffee. Facciamo così, Signora?
    Aber Mrs. Cresspahl ging gleich weiter durch den Regen, sieben Bogen Fotokopie unterm Mantel. Anwesenheit am Arbeitsplatz muß zumindest vorgetäuscht werden. Dann hat sie die Bank um einen ganzen Arbeitstag betrogen; da hätte selbst unser Vizepräsident de Rosny vergebens gefragt, was solch tschechische Schrift denn zu tun hat mit einer Reise nach Prag. Die Angestellte Cresspahl hätte ihn nicht nur daran erinnert, daß eben sie im August im Auftrag der Bank dahin reisen soll, wo die Sozialisten so reden. Sie hätte ihm wohl etwas erzählen mögen, etwa, daß Vorgesetzte sich störend auf die Arbeit auswirken. Schularbeiten waren es ja geradezu! Das Essen ließ Mrs. Cresspahl sich heraufbringen aus Sams Restaurant! Das Radio, eingestellt auf die Station Prag, sonderte laut fremde Worte ab, ausländische Musik, ganz heiß war es, als sie es abends mit nach Haus nahm. Nach Arbeiten sah es heute kaum aus im Büro.
    Komunistická strana, která měla po válce velikou důvěru lidí, postupně ji vyměňovala za úřady, až je dostala

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