Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
heutigen Zustand sind wir alle verantwortlich, in größerem Maße jedoch die Kommunisten unter uns. Die allergrößte Verantwortung tragen jene, die Vorteil zogen aus der unkontrollierten Macht oder ihr dienstbar waren. Das war die Macht einer eigensinnigen Gruppe, die mit Hilfe des Parteiapparates von Prag aus in jeden Bezirk und in jede Gemeinde eindrang. Dieser Apparat bestimmte, wer was tun durfte oder nicht tun durfte, er entschied für die Mitglieder der Genossenschaften über die Genossenschaften, für die Arbeiter über die Fabriken, für die Bürger über die Nationalausschüsse. Keine Organisation, nicht einmal eine kommunistische, gehörte wirklich ihren Mitgliedern. Die Hauptschuld und der schlimmste Betrug dieser Herrscher ist, daß sie ihre Willkür ausgaben für den Willen der Arbeiterklasse. Ließen wir uns darauf ein, so müßten wir heute den Arbeitern vorwerfen, daß unsere Wirtschaft ruiniert ist, daß an unschuldigen Menschen Verbrechen verübt wurden, daß eine Zensur noch eine Beschreibung all dieser Dinge verhinderte! Dann wären die Arbeiter schuld an den Fehl-Investitionen, an den Verlusten im staatlichen Handel, am Wohnungsmangel. Kein vernünftiger Mensch wird an eine solche Schuld der Arbeiterklasse glauben. Wir alle wissen, vor allem jeder Arbeiter, daß seine Klasse von jeglicher Entscheidung ausgeschlossen war. Über ihre eigenen Funktionäre wurde auswärts abgestimmt. Viele Arbeiter glaubten sich an der Macht; dabei regierte in ihrem Namen eine eigens trainierte Clique von Funktionären des Apparats von Partei und Regierung. Diese nahmen faktisch den Platz der gestürzten Klasse ein und erhoben sich selbst zur neuen Obrigkeit.
Um der Gerechtigkeit willen müssen wir sagen, daß unter ihnen viele sich bewußt waren, was für ein falsches Spiel sie betrieben. Heute erkennen wir sie daran, daß sie versuchen, das Unrecht wieder gutzumachen, die Fehler zu berichtigen, die Befugnis zur Entscheidung an die Parteimitglieder und an die Bürger zurückzugeben und die Vollmachten sowie die Kopfzahl der Administration zu beschränken. Gemeinsam mit uns wenden sie sich gegen rückständige Ansichten innerhalb der Partei. Aber ein großer Teil der Funktionäre stemmt sich gegen jede Veränderung. Immer noch haben sie Einfluß. Immer noch haben sie Mittel der Macht in den Händen, vor allem in der Provinz, in den Bezirken und Gemeinden, wo sie geheim ausgeübt werden kann, ohne Sorge vor einer Rechenschaft.
Seit Anfang dieses Jahres befinden wir uns in einem Prozeß der Erneuerung, der Demokratisierung.
Der Prozeß hat in der Kommunistischen Partei begonnen. Wir müssen das anerkennen, auch die Parteilosen unter uns, die von der Seite schon nichts Gutes mehr erwartet haben. Ergänzend ist zu sagen, daß dieser Prozeß auch nirgend wo anders hätte in Gang kommen können. Denn nur den Kommunisten war es vergönnt, über zwanzig Jahre hinweg ein politisches Leben zu führen und ihre Meinung dort zu sagen, wo etwas getan wurde. Lediglich die Opposition innerhalb der Partei genoß das Privileg, Fühlung mit dem Gegner zu halten. Darum sind die Initiative und die Bemühungen der demokratischen Kommunisten nur eine Abzahlung auf die Schuld, die die gesamte Partei gegenüber den Nichtkommunisten trägt, etwa mit der Verweigerung einer gleich berechtigten Stellung. Somit gebührt der Kommunistischen Partei keinerlei Dank. Vielleicht sollte man ihr anrechnen, daß sie sich ehrlich bemüht um die letzte Gelegenheit, die eigene Ehre und die Ehre der Nation zu retten.
Was der Prozeß der Erneuerung bringt, ist nicht allzu neu. Er kommt mit Gedanken und Problemen, von denen viele älter sind als die Irrtümer des Sozialismus und andere Erkenntnisse, die unter der Oberfläche der sichtbaren Geschehnisse entstanden, die längst hätten ausgesprochen werden müssen, aber unterdrückt wurden. Wir sollten uns nicht einbilden, daß diese Erkenntnisse nun notwendig siegen müssen, weil sie die Kraft der Wahrheit für sich haben. Über ihren Sieg entscheidet allein die Schwäche des alten Systems, das offenbar müde werden mußte durch eine zwanzigjährige, ungehinderte Herrschaft. Offensichtlich mußten sich die fehlerhaften Grundelemente dieses Systems, die schon in seinen ideologischen Grundlagen verborgen lagen, zur vollen Reife entwickeln. Darum sollten wir nicht die Kritik überschätzen, die aus den Reihen der Schriftsteller und Studenten kommt. Die Quelle der gesellschaftlichen Veränderungen ist die
Weitere Kostenlose Bücher