Jahrmarkt der Eitelkeit
ergreifen. »Was ist mit dir? Ich fand keine Ruhe, bis ich wußte, wie es dir geht.«
Amelia zog ihre Hand zurück – noch nie in ihrem Leben hatte die sanfte Seele sich geweigert, eine nette oder liebevolle Geste zu glauben oder zu erwidern. Aber jetzt zog sie, am ganzen Körper bebend, ihre Hand zurück. »Warum bist ausgerechnet du hierhergekommen, Rebekka?« fragte sie und sah Rebekka noch immer mit großen, ernsten Augen an. Dieser Blick brachte ihre Besucherin etwas aus der Fassung.
Sie muß gesehen haben, wie er mir auf dem Ball den Brief zusteckte, dachte Rebekka. »Rege dich nicht auf, liebe Amelia«, sagte sie und blickte zu Boden. »Ich bin nur gekommen, um zu sehen, ob ich dir irgendwie ... ob du wohlauf bist.«
»Bist du es denn?« fragte Amelia. »Ich glaube schon, daß du es bist. Du liebst deinen Mann nicht. Du wärst nicht hier, wenn du ihn liebtest. Sag mir doch, Rebekka, hast du von mir je etwas anderes als Freundlichkeiten erfahren?«
»Nein, bestimmt nicht, Amelia«, erwiderte die andere, immer noch mit gesenktem Kopf.
»Wer war dir eine Freundin, als du noch ganz arm warst? War ich nicht wie eine Schwester zu dir? Du hast uns alle in glücklicheren Tagen gesehen, ehe er mich heiratete. Damals bedeutete ich alles für ihn, denn hätte er sonst sein Vermögen, seine Familie so edelmütig aufgegeben, um mich glücklich zu machen? Warum bist du zwischen meine Liebe und mich getreten? Wer hat dich geschickt, zu trennen, was Gott zusammengefügt hat, und mir das Herz meines Geliebten – meinen Mann zu stehlen? Glaubst du, du könntest ihn lieben wie ich? Seine Liebe bedeutet mir alles. Du hast es gewußt und wolltest sie mir stehlen. Pfui, Rebekka, du schlechtes, böses Geschöpf – falsche Freundin und falsche Ehefrau.«
»Amelia, ich schwöre vor Gott, ich habe meinem Mann kein Unrecht getan«, sagte Rebekka und wandte sich ab.
»Hast du mir kein Unrecht getan, Rebekka? Es gelang dir nicht, aber du hast es versucht. Frage dein Herz, ob es stimmt.«
Sie weiß nichts, dachte Rebekka.
»Er ist zu mir zurückgekommen. Ich wußte, daß er das tun würde. Ich wußte, daß keine Lüge, keine Schmeichelei ihn mir lange entziehen konnte. Ich wußte, er würde zurückkommen. Gott hat mein Gebet erhört.«
Das arme Mädchen sprach diese Worte ohne Stocken, mit einem Mut, den Rebekka bei ihr nicht kannte. Sie war völlig sprachlos.
»Was habe ich dir denn getan«, fuhr Amelia in wehmütigerem Ton fort, »daß du versucht hast, ihn mir zu entreißen? Ich hatte ihn nur sechs Wochen. Die hättest du mir gönnen sollen, Rebekka. Und doch bist du vom ersten Tage unserer Ehe an gekommen, um sie zu zerstören. Bist du jetzt, wo er fort ist, gekommen, um zu sehen, wie unglücklich ich bin?« Sie fuhr fort: »Du hast mich in den letzten vierzehn Tagen elend genug gemacht. Heute wenigstens hättest du mich verschonen können.«
»Ich – ich bin nie hierhergekommen«, fiel Rebekka ein, was unglücklicherweise stimmte.
»Nein, du bist nicht hierhergekommen. Du hast ihn weggenommen. Bist du gekommen, um ihn von mir wegzuholen?« fuhr sie in wilderem Tone fort. »Er ist hiergewesen, aber jetzt ist er fort! Auf dem Sofa dort hat er gesessen. Berühre es nicht! Dort haben wir miteinander gesprochen. Ich saß auf seinen Knien, und meine Arme umschlangen seinen Hals, und wir beteten ein Vaterunser. Ja, er ist hiergewesen, und sie sind gekommen und haben ihn weggeholt, aber er hat mir versprochen, zurückzukommen.«
»Er wird zurückkommen, meine Liebe«, sagte Rebekka, wider Willen gerührt.
»Sieh her«, fuhr Amelia fort, »das ist seine Schärpe – hat sie nicht eine hübsche Farbe?« Und sie nahm die Fransen und küßte sie. Sie hatte sich irgendwann am Vormittag die Schärpe um die Taille gebunden. Anscheinend hatte sie ihren Zorn, ihre Eifersucht, ja sogar die Gegenwart ihrer Rivalin vergessen; denn sie ging schweigend und mit der Andeutung eines Lächelns auf das Bett zu und begann Georges Kissen zu glätten.
Rebekka ging, ebenfalls schweigend, davon. »Wie geht es Amelia?« fragte Joe, der immer noch in derselben Stellung auf dem Stuhl saß.
»Es sollte jemand bei ihr sein«, sagte Rebekka. »Ich glaube, es geht ihr nicht gut.« Und Mrs. Crawley entfernte sich ernsten Gesichtes, ohne auf Mr. Sedleys dringende Bitten, sie solle dableiben und an dem frühen Essen, das er bestellt hatte, teilnehmen, einzugehen.
Rebekka war von Natur aus gutmütig und gefällig, und sie mochte Amelia ganz gern. Sogar
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