Jakobsweg - Ein Weg nicht nur für Gscheitles
im Sinne eines Ausgewogenseins zwischen dem Drang, weiter zu gehen, dem Bedürfnis nach Ent- und Ausspannung, meiner Neugier auf die Landesgeschichte und seiner hervorgebrachten Kunstwerke sowie meinem Wunsche nach spirituellen Neuerfahrungen herzustellen. Jedwede diesbezügliche Entscheidung versetzte mich für kurze Zeit in einen inneren Konflikt. Wie einfach hatte es da doch Goethes Faust, in dessen Brust lediglich zwei Seelen wohnten. Zweifelsohne hatte ich daheim zu idealistische und euphorische Vorstellungen von meiner Pilgerschaft.
Um nicht auch noch meinen zuhause gefassten Vorsatz, am Anfang meiner Wanderschaft keine zu weiten Tagestouren zu unternehmen, einzuschränken oder gar zu brechen, bezog ich nach 19 km meine Schlafstatt in der Ortschaft Villatuerta, 3 km vor dem Orte Estella.
Donnerstag, den 13.05.:
In Estella strebte ich schnurstracks über die den Fluss Ega spitzförmig steil überspannende Brücke in die City zum nächsten Postamt. Wie seither gab es trotz mangelnder Spanischkenntnisse keine Verständigungsprobleme. Ich wollte das, was die Post anbietet. Noch niemals hatte ich so intensiv bewusst am eigenen Leibe verspürt, welch eine Wohltat ein um ca. 1,9 kg erleichtertes Gepäck einem bescheren kann. Langsam begann ich zu verstehen, dass ein Gelingen meiner Wanderschaft auch von meiner Fähigkeit abhängen konnte, mich frühzeitig von unnötigem Ballast trennen zu können, wobei die Sorge um einen eventuell künftigen Bedarf an dem Entledigten hintan zu stehen hatte. Zu meiner Zufriedenheit gesellte sich auch noch ein Anflug des Glücks, als ich meinen Reiseführer lesend mein Vesper vor Ort einnahm. Ich lag lediglich eineinhalb Tagesetappen hinter denen im Pilgerreiseführer vorgeschlagenen zurück. „Carpe diem! Nutze den Tag!“ Das hieß für mich, dass ich entgegen meiner bisherigen Gewohnheit das Tageslicht bis zum üblichen Herbergseinlassschluss um 22.00 Uhr voll ausnutzen soll, denn wie bei den Pilgern des Mittelalters soll nur die Nacht zum Schlafen da sein. Diese Binsenweisheit galt es nunmehr in die Tat umzusetzen.
So ging ich die Besichtigung Estellas geruhsam an.
Wehrhaft präsentierten sich mir die erneut verschlossenen Kirchen San Pedro de la Rtia und San Miguel. Man erkannte sofort, dass diese beispielhaft für das 12.Jahrhundert nicht nur zur gemeinschaftlichen Verherrlichung Gottes sondern auch zu einem äußerst profanen Zweck errichtet wurden, nämlich die eigenen Privilegien gegenüber der örtlichen Konkurrenz zu verteidigen beziehungsweise die Privilegien der anderen diesen streitig zu machen.
Da mein „Outdoor-Reiseführer“ empfahl, an einer Stadtführung teilzunehmen und das Fremdenbüro nahe des Palastes der Könige von Navarra, das Stadtführungen organisierte, erst um 16.00 Uhr wieder öffnete, entschloss ich mich trotz meinen weiterhin verfolgten Vorhaben, ca. 9,5 km weiter zur Ortschaft Villamayor de Monjardin zu wandern, zuzuwarten. Meine Wartezeit nutze ich dazu, den mir von meiner Mutter vor Antritt meiner Reise mit der Bitte zugesteckten Brief erst dann zu lesen, wenn ich mich bereits auf meiner Pilger-schaft befinde. Ich war förmlich angetan von dem, was ich bei der ablehnenden Haltung meiner Eltern zu meiner Pilgerwanderung da zu lesen bekam:
„Im Mai 2004 Lieber Uli,
heute begibst Du Dich auf den Jakobspilgerweg, Unser Heiland und Herr, der alles lenkt, möge Dich beschützen und behüten und zur Weisheit führen. Auf Deinem Weg wünschen wir Dir alles Gute. Pass auf Dich auf und bleibe gesund, damit Du durchhalten kannst, und komme mit festem Glauben gestärkt nach Hause zurück. Unsere Gedanken weilen immer bei Dir. Leider geht es nicht ohne Sorgen!
Lieber Uli, wir umarmen Dich!
Mutti und Papa “
Im Fremdenbüro gaben sie mir zu verstehen, dass heute keine Führungen stattfinden, allerdings könnten die beiden vorgenannten Kirchen ab 18.00 Uhr eintrittsfrei besichtigt werden. Während ich entscheidungsfindend das Fremdenbüro verließ, entdeckte ich eine spanische Jugend- oder Schülergruppe, die vor dem verschlossenen Portal der Kirche San Pedro de la Rúa stand und den Ausführungen einer Stadtführerin lauschte. Sicherlich wird für diese Gruppe die Kirchentür geöffnet werden, dachte ich bei mir. Zum ersten Mal war ich froh, von meinen Heimatkirchengemeinden in deutscher und spanischer Sprache abgefasste Empfehlungsschreiben in der Hand halten zu können, in dem u.a. um Unterstützung meiner Pilgerreise gebeten wurde.
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