Jamaica Lane - Heimliche Liebe
meinen Augen sah, ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben. »Liv, geht es dir gut?«, fragte er sanft und machte vorsichtig einen Schritt auf mich zu.
»Ich hab alles versaut!«, schrie ich und fuchtelte mit dem Arm in Richtung Truthahn. »Der ist hin! Wozu soll ich jetzt überhaupt noch den Scheißkuchen backen, wenn der scheißverdammte Vogel im Eimer ist? Ich hab Zwiebeln geschnitten für den Kartoffelbrei, aber der ist jetzt auch für die Tonne, weil die anderen Kartoffeln verbrannt sind, und man kann zu Thanksgiving nicht nur eine Sorte Kartoffeln haben!«
»Babe, komm doch mal her.« Er näherte sich mir wie einem verletzten Tier, und ich war von seinem Verhalten so überrumpelt, dass ich mich nicht wehrte, als er mit sanftem, aber festem Griff meinen Oberarm umfasste. Als mir klar wurde, dass er mich aus der Küche ins Wohnzimmer ziehen wollte, richtete sich meine ohnmächtige Wut gegen ihn.
»Nein!«, schrie ich und versuchte, mich loszureißen.
»Meine Güte, Liv, jetzt beruhig dich erst mal«, sagte er und nahm auch noch meinen zweiten Arm. »Beruhig dich, und erzähl mir, was passiert ist.«
»Lass mich!« Ich zog an meinen Armen, und als das nichts nützte, versuchte ich, Nate von mir wegzustoßen, ihn irgendwie aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Lass mich los! Ich muss das in Ordnung bringen! Ich muss das wieder in Ordnung bringen!«
»Liv«, flüsterte er beunruhigt und schüttelte mich, bis ich verstummte. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich ihn an. Er ließ meine Arme los und legte die Hände an meine Wangen. Ich sah in sein Gesicht, und der Ausdruck darin machte mir Angst.
Ich führte mich auf wie eine Wahnsinnige.
Jetzt war es mit meiner Beherrschung endgültig vorbei. Der altbekannte Schmerz wütete in meiner Brust, und mein ganzer Körper bebte. Ich konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. »Sie ist nicht da, um es in Ordnung zu bringen.« Ich sackte gegen Nate und begann, hemmungslos zu schluchzen.
Er legte die Arme um mich, während ich an seiner Brust weinte, und in dem Moment hatte ich das Gefühl, als wären sie das Einzige, was mich noch zusammenhielt.
»Es war hart«, flüsterte ich und holte tief Luft. »Aber sie hat es eisern durchgezogen. Jedes Thanksgiving.« Ich beruhigte mich ganz langsam, während Nate tröstende Worte murmelte. Mein Kopf lag an seiner Brust und bewegte sich im Einklang mit seinem Atem. Ich ließ mich von dem Rhythmus einlullen, und ganz allmählich kam auch mein eigener Atem wieder zur Ruhe.
Als ich mir meiner Umgebung wieder bewusst wurde, stellte ich fest, dass ich mit Nate zusammen auf der Couch lag. Wir lagen Seite an Seite, ich hatte den Kopf an seine Brust geschmiegt und meine rechte Hand mit seiner linken verschränkt.
»Tut mir leid«, krächzte ich. Meine Augen waren verquollen, und meine Wangen brannten vor Scham wegen meines Ausbruchs. Wenn ich ehrlich war, hatte der sich schon die vergangenen Wochen über angebahnt, je näher es auf Thanksgiving zuging. Aber ich hatte meine innere Anspannung gnadenlos unterdrückt, weil mein Vater nichts von meinem labilen Gemütszustand wissen sollte.
»Du musst dich nicht entschuldigen«, versicherte Nate mir. »Warum ausgerechnet heute, Liv?«
»Bei uns zu Hause ist Thanksgiving«, sagte ich mit leiser Stimme. Ich hatte Angst, dass ich, wenn ich lauter sprach, sofort wieder hysterisch werden würde. »Ganz egal, wie schlecht es Mom ging, an Thanksgiving hat sie immer alle Register gezogen. Sie wollte, dass es so normal war wie möglich, auch wenn in Wahrheit gar nichts normal war.« Meine Lippen zitterten, und frische Tränen liefen mir über die Wangen. »Sie war meine beste Freundin. Wir konnten uns immer alles sagen.«
»Babe.« Ich hörte das schmerzvolle Mitgefühl in seiner Stimme, und es tröstete mich ein wenig.
»Heute vor vier Jahren ist sie gestorben. An Thanksgiving. Dies ist das erste Jahr seit ihrem Tod, dass ich nicht an ihrem Grab war.« Ich weinte wieder heftiger. »Ich will nicht, dass sie denkt, ich habe sie vergessen.«
Er hielt mich ganz fest, während ich weiter in sein Hemd schluchzte und den bereits feuchten Stoff gründlich durchnässte.
»Liv.« Er drückte mich an sich. »Babe, so was würde sie doch niemals denken.«
»Ich war bis zum Ende bei ihr, Nate.« Ich wischte mir mit der Hand die laufende Nase. »Ich habe meine Kindheit verpasst, ich bin von der Uni abgegangen, ich habe alles getan, um ihr zu helfen, aber wir haben es nicht geschafft. Ihr Leben … es
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