James Bond 06 - Dr. No (German Edition)
den Akten hätten Sie auch nicht viel mehr erfahren. Er scheint ein höflicher Bursche zu sein. Sehr geschäftstüchtig. Dann kam dieser Streit mit der Audubon-Gesellschaft. Ich nehme an, Sie wissen alles darüber. Was die Insel selbst angeht, darüber befanden sich in der Akte nicht mehr als ein, zwei Vorkriegsberichte und eine Kopie der letzten kartografischen Vermessung. Klingt auf jeden Fall wie ein gottverlassenes Fleckchen Erde. Überall nur Mangrovensümpfe und an einem Ende ein großer Haufen Vogelmist. Aber Sie erwähnten, dass Sie noch ins Institut gehen wollten. Ich könnte Sie hinbringen und Sie dem Burschen vorstellen, der dort die Kartografieabteilung leitet.«
Eine Stunde später hatte Bond sich mit der Generalstabskarte von Crab Key aus dem Jahr 1910 in einer düsteren Kammer niedergelassen. Dort fertigte er eine grobe Kopie an und skizzierte die Lage der wichtigsten Punkte.
Die Gesamtfläche der Insel betrug etwa hundertdreißig Quadratkilometer. Drei Viertel davon bestand aus Sümpfen und einem Flachsee. Von diesem See aus schlängelte sich ein seichter Fluss über die Insel und mündete an der Südküste in einer kleinen sandigen Bucht. Bond nahm an, dass irgendwo im Quellgebiet die wahrscheinlichste Stelle für das Lager der Audubon-Wächter sein würde. Im Westen erhob sich ein steiler Hügel, dessen Höhe mit etwa hundertfünfzig Metern angegeben wurde, und endete abrupt an einer Klippe, die steil zum Meer abfiel. Von diesem Hügel aus führte eine gepunktete Linie zu einem Kasten in einer Ecke der Karte, in dem die Worte »Guanovorkommen. Letzter Abbau 1880« standen.
Auf der gesamten Insel gab es keinen Hinweis auf eine Straße oder Gleise, und keine Spur von einem Haus. Die Reliefkarte zeigte, dass die Insel gen Westen hin die Form einer Wasserratte hatte – ein langes schmales Rückgrat, das zu einem größeren Kopf führte. Sie schien etwa fünfzig Kilometer nördlich von Galina Point an der Nordküste Jamaikas und etwa hundert Kilometer südlich von Kuba zu liegen.
Viel mehr konnte man anhand der Karte nicht erkennen. Crab Key war von Untiefen umgeben, abgesehen von der westlichen Klippe, wo die nächstliegende Markierung fünfhundert Faden betrug. Dahinter begann die kubanische Tiefe. Bond faltete die Karte zusammen und übergab sie dem Bibliothekar.
Er fühlte sich plötzlich erschöpft. Es war erst sechzehn Uhr, aber es war brütend heiß in Kingston, und sein Hemd klebte ihm am Körper. Bond verließ das Institut, schnappte sich ein Taxi und kehrte zu seinem Hotel in den kühlen Hügeln zurück. Er war mit seinem Tag mehr als zufrieden, und auf dieser Seite der Insel konnte er ohnehin nichts weiter tun. Er würde einen ruhigen Abend in seinem Hotel verbringen und am nächsten Morgen früh aufbrechen.
Bond ging zum Empfang, um zu erfragen, ob eine Nachricht von Quarrel gekommen war. »Keine Nachrichten, Sir«, sagte die Hotelmitarbeiterin. »Aber vom King’s House ist ein Obstkorb gekommen. Direkt nach dem Mittagessen. Der Bote hat ihn direkt in Ihr Zimmer gebracht.«
»Was für ein Bote war das?«
»Ein Farbiger, Sir. Er sagte, er komme aus dem Büro des Adjutanten.«
»Vielen Dank.« Bond ließ sich seinen Schlüssel geben und stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf. Die Sache war lächerlich unwahrscheinlich. Mit der Hand an der Waffe unter seinem Jackett ging Bond leise auf seine Tür zu. Er drehte den Schlüssel herum und trat die Tür auf. Das Zimmer war leer. Bond zog die Tür zu und verschloss sie. Auf seiner Anrichte stand ein großer, überladener Obstkorb mit Mandarinen, Grapefruits, rosa Zwergbananen, Stachelannonen, Sternäpfeln und sogar ein paar Treibhausnektarinen. Am Griff war mit einer großen Schleife ein weißer Umschlag befestigt. Bond löste ihn und hielt ihn gegen das Licht. Dann öffnete er ihn. Auf teuer wirkendem weißem Briefpapier stand in Schreibmaschinenschrift: MIT BESTEN EMPFEHLUNGEN SEINER EXZELLENZ, DES GOUVERNEURS.
Bond schnaubte. Dann musterte er das Obst, beugte sich vor und lauschte. Er hob den Korb am Griff an und kippte den Inhalt auf den Boden. Die Früchte rollten über die Kokosfasermatten. Abgesehen vom Obst befand sich nichts im Korb. Bond musste über seine Vorsicht schmunzeln. Aber es gab noch eine letzte Möglichkeit. Er hob eine der Nektarinen auf, die ein gieriger Mann wahrscheinlich zuerst auswählen würde, und nahm sie mit ins Badezimmer. Er ließ sie ins Waschbecken fallen und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Nach
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