James Bond 06 - Dr. No (German Edition)
nämlich auch. Zumindest momentan. Und ich habe dich dort nie gesehen. Wohnst du auf einem Baum?«
»Oh, du hast bestimmt das Strandhaus gemietet. Da gehe ich nie hin. Ich lebe im Herrenhaus.«
»Aber davon ist doch gar nichts mehr übrig. Es ist eine Ruine inmitten der Zuckerrohrfelder.«
»Ich wohne dort im Keller. Schon seit meinem fünften Lebensjahr. Damals wurde das Herrenhaus niedergebrannt, und meine Eltern kamen dabei ums Leben. Ich kann mich nicht an sie erinnern, also musst du auch nicht sagen, dass es dir leidtut. Zuerst lebte ich dort mit meinem schwarzen Kindermädchen. Sie starb, als ich fünfzehn war. Die letzten fünf Jahre war ich dann ganz alleine.«
»Großer Gott.« Bond war entsetzt. »Aber gab es denn sonst niemanden, der sich um dich kümmern konnte? Haben deine Eltern dir kein Geld hinterlassen?«
»Nicht einen Penny.« In der Stimme des Mädchens lag keine Verbitterung – höchstens Stolz. »Wir sind eine der ältesten jamaikanischen Familien. Der erste Rider hatte die Ländereien von Beau Desert von Cromwell höchstpersönlich erhalten, weil er König Charles’ Todesurteil mit unterzeichnet hatte. Er ließ das Herrenhaus erbauen und seitdem lebten meine Vorfahren mit Unterbrechungen dort. Doch dann brachen die Preise für Zucker ein, und ich vermute, dass der Besitz schlecht verwaltet wurde. Als mein Vater die Plantage schließlich erbte, gab es nur noch Schulden – Hypotheken und all so was. Und als mein Vater und meine Mutter dann starben, wurde alles verkauft. Das machte mir nichts aus. Ich war noch zu klein. Mein Kindermädchen hat wundervoll gekämpft. Der Pfarrer und die Rechtsleute wollten, dass mich jemand adoptiert, aber mein Kindermädchen sammelte die Überreste der Möbel ein, die nicht verbrannt waren, und wir richteten uns in der Ruine ein. Nach einer Weile kam dann niemand mehr, um uns zu stören. Sie arbeitete im Dorf als Näherin und Wäscherin und baute ein paar Bananen und andere Sachen an. Und neben dem alten Haus stand ein großer Brotfruchtbaum. Wir aßen, was die Jamaikaner aßen. Und dann gab es natürlich noch das Zuckerrohr überall um uns herum, und sie machte einen Fischeintopf, den wir jeden Tag aßen. Alles war in Ordnung. Wir hatten genug zu essen. Irgendwie brachte sie mir auch das Lesen und Schreiben bei. Wir besaßen einen Stapel Bücher, die das Feuer überstanden hatten. Darunter befand sich auch ein Lexikon. Ich fing bei A an, als ich ungefähr acht war. Mittlerweile bin ich schon bei T angelangt.« Ihr Tonfall wurde ein wenig verteidigend. »Ich wette, ich weiß über viele Dinge mehr als du.«
»Das stimmt wahrscheinlich.« Bond war ganz fasziniert von der Vorstellung des kleinen blonden Mädchens, das mit der sturköpfigen alten Negerin, die sich um es kümmerte, in den Ruinen lebte. Er sah bildhaft vor sich, wie die alte Frau die Kleine zu ihren Unterrichtsstunden hereinrief, von denen sie selbst vermutlich ebenfalls kaum etwas verstanden hatte. »Dein Kindermädchen muss eine wundervolle Person gewesen sein.«
»Sie war ein Schatz.« Es war eine emotionslose Aussage. »Als sie starb, dachte ich, ich müsste ebenfalls sterben. Danach war das Leben nicht mehr so schön. Zuvor war ich ein Kind gewesen. Dann musste ich plötzlich erwachsen werden und alles allein bewältigen. Und die Männer versuchten, mich zu fangen und mir wehzutun. Sie sagten, sie wollten Liebe mit mir machen.« Sie hielt inne. »Damals war ich noch hübsch.«
»Du bist eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe«, sagte Bond ernsthaft.
»Mit dieser Nase? Sei nicht albern.«
»Du verstehst das nicht.« Bond versuchte, Worte zu finden, die sie glauben würde. »Natürlich kann jeder sehen, dass deine Nase gebrochen ist. Aber seit heute Morgen ist mir das kaum noch aufgefallen. Wenn man einer Person ins Gesicht sieht, dann schaut man ihr in die Augen oder auf den Mund. Damit werden die Empfindungen ausgedrückt. Eine gebrochene Nase hat nicht mehr Bedeutung als ein schiefes Ohr. Nasen und Ohren sind so etwas wie die Möbel des Gesichts. Manche sind hübscher als andere, aber sie sind nicht annähernd so wichtig wie der Rest. Sie gehören zum Hintergrund eines Gesichts. Wenn deine Nase so schön wie der Rest von dir wäre, wärst du das schönste Mädchen auf ganz Jamaika.«
»Meinst du das ernst?« Ihre Stimme klang drängend. »Glaubst du, ich könnte schön sein? Ich weiß, dass ein paar Dinge an mir ganz in Ordnung sind, aber wenn ich in den Spiegel schaue,
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