James Bond 06 - Dr. No (German Edition)
Dinge nicht weiß, entgeht einem vieles.«
»Ich fürchte, so ist es«, pflichtete Bond ihr bei. »Ich vermute, Tiere sind viel netter und interessanter als Menschen.«
»Das kann ich nicht beurteilen«, erwiderte das Mädchen nachdenklich. »Ich kenne nicht viele Menschen. Die meisten, die ich kennengelernt habe, waren scheußlich. Aber ich schätze, sie können wohl auch interessant sein.« Sie hielt inne. »Ich habe noch nie wirklich darüber nachgedacht, sie so zu mögen, wie ich die Tiere mag. Bis auf mein Kindermädchen natürlich. Bis …« Sie brach mit einem schüchternen Lachen ab. »Tja, jedenfalls haben wir alle glücklich zusammengelebt, bis ich fünfzehn war und mein Kindermädchen starb. Danach wurden die Dinge schwierig. Es gab da diesen Mann namens Mander. Ein schrecklicher Kerl. Er war der weiße Aufseher für die Leute, denen das Grundstück gehört. Er kam ständig zu mir. Er wollte, dass ich in sein Haus in der Nähe von Port Maria ziehe. Ich hasste ihn und versteckte mich immer, wenn ich sein Pferd durch die Zuckerrohrfelder kommen hörte. Eines Nachts kam er zu Fuß, und ich hörte ihn nicht. Er war betrunken. Er kam in den Keller und kämpfte mit mir, weil ich mich weigerte, das zu tun, was er von mir verlangte. Du weißt schon, diese Sachen, die Verliebte machen.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich versuchte, ihn mit meinem Messer zu töten, aber er war sehr stark. Er schlug mich so fest er konnte ins Gesicht und brach mir die Nase. Ich wurde bewusstlos, und ich glaube, dass er mir dann schreckliche Dinge angetan hat. Ich meine, ich weiß, dass er es getan hat. Als ich am nächsten Morgen mein Gesicht sah und herausfand, was er getan hatte, wollte ich mich umbringen. Ich dachte, ich würde ein Kind bekommen. Ich hätte mich auf jeden Fall umgebracht, wenn ich ein Kind von diesem Mann bekommen hätte. Aber ich bekam keins. Ich ging zum Arzt. Er versorgte meine Nase so gut er konnte und verlangte nichts dafür. Den Rest erzählte ich ihm nicht. Ich schämte mich zu sehr. Der Mann kam nicht mehr zurück. Ich wartete bis zur nächsten Zuckerrohrernte und unternahm nichts. Ich hatte einen Plan. Ich wartete darauf, dass die Schwarzen Witwen in meinem Keller Unterschlupf suchten. Eines Tages kamen sie. Ich fing das größte Weibchen ein und sperrte es ohne Nahrung in eine Schachtel. Die Weibchen sind richtig gefährlich. Dann wartete ich auf eine dunkle, mondlose Nacht. Ich nahm die Schachtel mit der Spinne darin und lief so lange, bis ich das Haus des Mannes erreichte. Es war dunkel, und ich fürchtete mich vor den Geistern, die mir auf der Straße begegnen könnten, aber ich sah keine. Ich wartete in seinem Garten hinter den Büschen und beobachtete, wie er ins Bett ging. Dann kletterte ich auf einen Baum und gelangte von da auf seinen Balkon. Dort wartete ich, bis ich sein Schnarchen hörte. Dann kletterte ich durchs Fenster hinein. Er lag nackt auf dem Bett unter dem Moskitonetz. Ich hob eine Ecke an, öffnete die Schachtel und schüttelte die Spinne auf seinen Bauch. Dann ging ich zurück nach Hause.«
»Gütiger Gott!«, entfuhr es Bond ehrfürchtig. »Was ist mit ihm passiert?«
»Es dauerte eine Woche, bis er schließlich starb«, erwiderte sie fröhlich. »Es muss schrecklich wehgetan haben. So ist das bei diesen Spinnen. Der Obeah-Mann sagt, es gibt keinen vergleichbaren Schmerz.« Sie hielt inne. Als Bond nicht reagierte, fragte sie nervös: »Denkst du, dass das falsch von mir war?«
»Du solltest es nicht zur Gewohnheit werden lassen«, antwortete Bond sanft. »Aber ich kann nicht behaupten, dass ich es dir in dieser Situation verdenken kann. Also, was ist dann passiert?«
»Nun, ich lebte einfach weiter wie bisher.« Ihre Stimme klang sachlich. »Ich musste mich darauf konzentrieren, genug Essen zu beschaffen, und natürlich wollte ich vor allem genug Geld zusammenbekommen, um meine Nase richten lassen zu können. Es war vorher wirklich eine recht hübsche Nase«, fügte sie überzeugt hinzu. »Glaubst du, die Ärzte können sie wieder so hinbekommen, wie sie einmal war?«
»Sie können ihr jede Form geben, die du dir wünschst«, erklärte Bond bestimmt. »Womit hast du dein Geld verdient?«
»Es war das Lexikon. Darin stand, dass die Menschen Muscheln sammeln. Und dass man die seltenen Exemplare verkaufen kann. Ich sprach mit dem örtlichen Schulmeister – natürlich ohne ihm mein Geheimnis zu verraten –, und er fand heraus, dass es eine amerikanische Zeitschrift
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