James, Henry
offensichtlich in Gedanken versunken, und seine sanften, offenen Züge boten hinlänglichen Beweis dafür, dass die Bürde, die auf seinem Herzen lastete, nicht von einem schlechten Gewissen herrührte. Was konnte es dann sein außer einer unerwiderten Leidenschaft? Doch drängte sich einem gleichermaßen die Frage auf, warum Mr Longstaff nichts unternahm, um zu erreichen, dass seine Liebe erwidert wurde.
« Warum in aller Welt bittet er nicht darum, dir vorgestellt zu werden?», fragte Agatha ihre Gefährtin.
Diana erwiderte völlig gleichmütig, dies liege fraglos daran, dass er ihr nichts zu sagen habe; und mit ein ganz klein wenig mehr Nachdruck erklärte sie, sie sei außerstande, ihm ein Gesprächsthema
vorzuschlagen. Sie fügte noch hinzu, sie hätten ihrer Meinung nach nun lange genug über den armen Mann geredet und sollte er etwa die Taktlosigkeit besitzen, sie anzusprechen, werde sie sich ganz gewiss entfernen und ihn mit Miss Josling allein lassen. Allerdings hatte sie, zu einem früheren Zeitpunkt, die Bemerkung fallen lassen, er sei zweifellos der«distinguierteste »Mensch in Nizza; und wenn sie auch nie als Erste auf ihn zu sprechen kam, gestattete sie es ihrer Gefährtin später mehr als einmal, sich eine Zeitlang über das Thema auszulassen, ohne sie daran zu erinnern, wie sinnlos dies sei.
Der einzige Mensch, mit dem man Mr Longstaff sprechen sah, war ein älterer Herr von ausländischem Aussehen, der sich ihm bisweilen höchst ehrerbietig näherte und den Agatha Josling für seinen Diener hielt. Dieser Mann war offenbar Italiener; er benahm sich unterwürfig, hatte einen angegrauten Backenbart und ein gewinnendes Lächeln. Er kam allem Anschein nach, um Mr Longstaffs Anweisungen entgegenzunehmen, und entfernte sich sogleich wieder, um sie auszuführen. Agatha fiel auf, dass er es auf dem Rückweg immer so einzurichten wusste, dass er an ihrer Gefährtin vorüberging, die er mit seinem respektvollen, aber durchdringenden
Blick musterte.«Er kennt das Geheimnis», sagte sie immer ein wenig scherzhaft.«Er weiß, was seinem Herrn fehlt, und er will dich in Augenschein nehmen, um festzustellen, ob du seine Billigung findest. Alte Diener wollen nicht, dass ihre Herren heiraten, und ich glaube, dieser ehrenwerte Mann hat gehörige Angst vor dir. Jedenfalls sagt der Blick, mit dem er dich anstarrt, alles.»
« Jeder starrt mich an!», sagte Diana verdrossen.« Das ist nichts Ungewöhnliches.»
Während die Wochen dahingingen, gelangte Agatha Josling zu der festen Überzeugung, Mr Longstaffs Leiden habe mit der Lunge zu tun. Dass der arme junge Mann krank war, war jetzt ganz offenkundig; er vermochte kaum noch den Kopf hochzuhalten oder einen Fuß vor den anderen zu setzen; sein Diener war immer in seiner Nähe, um ihm den Arm zu reichen oder einen zusätzlichen Mantel umzulegen. Freilich wusste niemand mit Sicherheit zu sagen, ob er tatsächlich schwindsüchtig war, doch Agatha teilte die Meinung der Dame, von der sie die Auskünfte über seinen Stammbaum erhalten hatte, dass allein schon dieser Umstand äußerst verdächtig sei, denn warum sollte er, wie die freundliche Engländerin mit Nachdruck bemerkte, ein solches
Geheimnis daraus machen, wenn er nicht wirklich krank war? Suchte die Schwindsucht einen vermögenden jungen Mann aus gutem Hause heim, war es besonders betrüblich; solche Leute taten dann aus diplomatischen Gründen oft so, als erfreuten sie sich bester Gesundheit. Es bewahrte sie davor, dass Erbschleicher und gierige Verwandte ihnen für den Rest ihres Lebens zusetzten. Agatha wurde bewusst, dass die letzten Stunden dieses armen Gentlemans wohl sehr einsam sein würden. Sie hätte ihm gern angeboten, ihn zu pflegen, denn da sie nicht mit ihm verwandt war, konnte er sie nicht bezichtigen, sie tue es nur des Geldes wegen. Von Zeit zu Zeit erhob er sich von der Bank, auf der er gewöhnlich saß, und spazierte langsam an den beiden Freundinnen vorüber. Jedes Mal, wenn er sich ihnen näherte, hatte Agatha ein eigenartiges Gefühl – sie war fest überzeugt, er werde sie nun tatsächlich ansprechen. Er würde mit ausgesuchter Höflichkeit sprechen – etwas anderes vermochte sie sich bei ihm nicht vorzustellen. Es begann damit, dass er bereits von weitem seine ernsten, sanften Augen auf Diana richtete, und während er näher kam, hätte man meinen können, er gehe, ein schüchternes Kompliment auf den Lippen, direkt auf sie zu. Doch dann schien
seine Zielstrebigkeit ihn auf einmal im
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