James, Henry
hätten schließlich ihre besten Hüte und ihre Visitenkarten zu Hause gelassen. Der wahre Grund für Dianas Zurückhaltung aber war die Befürchtung, sie könne«bewundert»werden; das war kein albernes Gerede, sondern schlicht
die Lehre aus einer unangenehmen Erfahrung. Sie war in Europa zum ersten Mal gewissen widerwärtigen Männern begegnet – elegant gekleideten Abenteurern, die sie mit lüsternen Blicken musterten und es nur aufs Geld abgesehen hatten; und sie hatte nun eine gesunde Angst, einer dieser Herren könnte ihr zu nahe treten, vergäße sie ihre Zurückhaltung versehentlich einmal. Agatha Josling, die weder in der Vergangenheit Anlass gehabt hatte noch künftig Anlass haben würde, aus denselben Gründen jemandem ihren anmutigen Rücken zuzukehren, hätte gern ihren Bekanntenkreis erweitert und sich sogar bereit erklärt, zu diesem Zweck ihren besten Hut aufzusetzen. Doch sie musste sich mit gelegentlichem belanglosem Geplauder mit zwei oder drei botanisierenden Engländerinnen auf einer Bank am Meer zufriedengeben – leutseligen alten Jungfern, die grobe Stiefel, feste Handschuhe und Hüte mit zum Schutz vor der Sonne angesetzten Schilden trugen und die auf der Suche nach Blumen am Wegesrand an Orten herumkrabbelten, an denen die erwähnten Gegenstände beim besten Willen nicht zu übersehen waren. Im Übrigen begnügte Agatha sich damit, Geschichten um die Leute herum zu spinnen, mit denen sie nie sprach. Sie ersann eine Menge
hypothetischer Unterhaltungen, stellte Theorien auf und erfand Erklärungen – in der Regel von der wohlwollendsten Art. Ihre Gefährtin beteiligte sich an diesen harmlosen Gedankenspielen nicht, außer dass sie sich diese mit einem unbeteiligten Lächeln anhörte. Sie ließ ihren Mitmenschen nur selten die Ehre angedeihen, Entschuldigungen für sie zu suchen, und wollten diese, dass sie ihre Geschichte las, so mussten sie sie in den größten Lettern niederschreiben.
Eine Person gab es allerdings in Nizza, deren Biographie sie vermutlich eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt hätte, wäre sie ihr auf diese Weise zur Kenntnis gebracht worden. Agatha war der Gentleman zuerst aufgefallen, wenigstens hatte Agatha als Erste von ihm gesprochen. Er war jung und machte einen interessanten Eindruck; Agatha hatte sich lange gefragt, ob er in die Kategorie der Kranken gehörte oder nicht. Am liebsten wollte sie glauben, eine seiner Lungen sei«angegriffen»; das machte ihn fraglos noch interessanter. Er pflegte allein umherzuspazieren und lange an der Sonne zu sitzen; dabei lugte stets ein Buch aus seiner Jackentasche. Er schlug dieses Buch jedoch nie auf, sondern starrte immer nur aufs Meer hinaus. Ich sage« immer», doch bedarf meine Formulierung sogleich
einer Einschränkung: Er sah immer dann aufs Meer hinaus, wenn er nicht gerade Diana Belfield ansah. Er war groß, blond und hager und sah, wie Agatha Josling sagte, aristokratisch aus. Er kleidete sich mit einer gewissen nachlässigen Eleganz, die Agatha pittoresk fand, und eines Tages erklärte sie, er erinnere sie an einen liebeskranken Prinzen. Irgendwann erfuhr sie von einer der botanisierenden Jungfern, dass er kein Prinz war, sondern einfach ein englischer Gentleman, nämlich Mr Reginald Longstaff. Dass er liebeskrank war, war durchaus möglich, doch ließ sich dieser Punkt nicht so leicht klären. Agathas Informantin hatte ihr aber versichert, auch wenn sie keine Prinzen seien, hätten die Longstaffs, die aus einer Gegend des Landes stammten, die sie besucht habe und wo sie große Besitztümer ihr Eigen nannten, doch einen Stammbaum, um den viele Prinzen sie beneiden dürften. Ihr Name war einer der ältesten und besten in England; die Longstaffs waren eine der unzähligen Familien vom Lande, die zwar keinen Titel besaßen, ihren Kopf aber so hoch trugen wie die erlauchtesten Kreise. Dieser arme Mr Longstaff war ein Musterbeispiel eines jungen englischen Gentlemans; er wirkte so sanft und doch so tapfer, so bescheiden und doch
so kultiviert! Die Damen pflegten von ihm als dem«armen»Mr. Longstaff zu sprechen, denn sie sahen es mittlerweile als erwiesen an, dass ihm etwas fehlte. Agatha Josling fand schließlich heraus, was es war, und tat es feierlich kund: Mr Longstaff war schlicht in Diana verliebt! Es war doch ganz natürlich, anzunehmen, dass er in jemanden verliebt war, und, wie Agatha sagte, sie selbst konnte es unmöglich sein. Mr Longstaff sah blass und ein wenig zerzaust aus; er sprach mit niemandem; er war
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