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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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Nun, da Ihre Täuschung endet, endet auch meine. Jetzt sind wir frei, mit unseren hunderttausend im Jahr! Verzeihen Sie, aber manchmal überkommt es mich! Jetzt können wir gut und ehrlich und treu sein. Vorher war alle Tugend nur geheuchelt.»
    « Du hast das da also gelesen?», fragte ich, eigentlich nur um etwas zu sagen – auch wenn dies seltsam erscheinen mag.

    « Ja, während Sie krank waren. Es lag auf dem Tisch, Ihre Feder zwischen den Seiten. Ich las es, weil ich Verdacht geschöpft hatte. Sonst hätte ich es nicht getan.»
    « Es war die Tat einer hinterhältigen Frau», sagte ich.
    « Einer hinterhältigen Frau? Nein, nur einer Frau. Ich bin eine Frau, Sir.»Bei diesen Worten begann sie zu lächeln.«Kommen Sie, seien Sie ein Mann!»

LONGSTAFFS HEIRAT
    Vor vierzig Jahren war jene inzwischen übliche und zu mancher Anekdote Anlass gebende Freiheit junger Amerikanerinnen, die bekanntlich den Neid ihrer ausländischen Schwestern weckt und diese zuweilen zur Verzweiflung treibt, noch nicht so selbstverständlich wie heute; doch war sie immerhin schon so weit akzeptiert, dass es keinen Skandal auslöste, wenn ein so hübsches Mädchen wie Diana Belfield mit keinem respekteinflößenderen Schutz zur«Grand Tour»durch Europa aufbrach als dem ihrer Kusine und engen Freundin Miss Agatha Josling. Vom europäischen Standpunkt aus mochte ihr Unterfangen recht gefährlich erscheinen, war sie doch von beachtlicher Schönheit – einer Schönheit, von der schon ihr Name kündete, den man ihr vielleicht in weiser Voraussicht ihrer hochgewachsenen, schlanken Gestalt, der edlen Haltung ihres von einem schweren Kranz kastanienbraunen Haares gekrönten Hauptes, ihres offenen, wachen Blickes und ihres schnellen, schwebenden Schrittes gegeben hatte. Sie
pflegte häufig mit einem großen Hund spazieren zu gehen, der die Gewohnheit hatte, an ihrer Seite einherzuspringen und den Kopf gegen ihre ausgestreckte Hand zu stoßen; außerdem hatte sie es sich angewöhnt, ihren langen Sonnenschirm stets geschlossen, denn sie hatte keine Angst vor der Sonne, über der Schulter zu tragen wie ein marschierender Soldat seine Muskete. So ausgerüstet, glich sie auf wunderbare Weise jener bezaubernden antiken Statue der Jagdgöttin 1 , die wir in verschiedenen Repliken in jedem zweiten Museum der Welt antreffen. Fast erwartete man, einen sandalenbeschuhten Fuß unter ihrem flatternden Gewand hervorlugen zu sehen. Mit dem Schritt der wachsamen Jägerin betrat sie das alte Segelschiff, das sie an fremde Gestade bringen sollte. Ihr folgte, in ganz anderer démarche 2 und mit zahlreichen Tüchern und Taschen, ihre weniger großgewachsene Verwandte. Agatha Josling war keine Schönheit, doch war sie die umsichtigste und aufopferungsvollste Gefährtin, die man sich vorstellen konnte. Der Tod von Dianas Mutter hatte die beiden zusammengeführt, denn als Diana in den Besitz des elterlichen Vermögens kam, teilte sie als Allererstes ihr Erbe mit Agatha, die selbst keinen Penny besaß; als
Nächstes erwarb sie einen Kreditbrief auf einen europäischen Bankier. Die Kusinen hatten eine klassische Freundschaft geschlossen: Sie wollten einander alles sein – wie die Damen von Llangollen 3 . Und war ihre Freundschaft auch auf sie beide beschränkt, so sollte ihr Llangollen doch weitläufig sein. Sie würden zusammen über das Pflaster historischer Städte schreiten und durch die Schiffe gotischer Kathedralen wandern, sich auf Maultieren mit hell klingenden Glöckchen durch Bergschluchten winden und zwischen dunkeläugigen Bauern an den Ufern blauer Seen sitzen. Es mag sonderbar erscheinen, dass ein schönes Mädchen mit einem hübschen Vermögen das höchste Glück im Leben in einer durch die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten strapazierten Freundschaft sucht, doch Diana selbst sah in diesem Zeitvertreib keinesfalls nur eine kümmerliche Notlösung. Auch wenn sie selbst nie darüber sprach – ihr Biograph darf es sagen: Sie hatte, salopp ausgedrückt, an die hundert Anträge bekommen. Zu sagen, sie habe sie einfach abgelehnt, trifft die Sache nicht; sie hatten sie mit Verachtung erfüllt. Die Anträge stammten von ehrenwerten, liebenswürdigen Männern, und es waren auch nicht ihre Freier an sich, die ihr zuwider waren, es war schlicht
die Vorstellung, überhaupt zu heiraten. Sie fand sie unerträglich – ein Umstand, der die Analogie mit der mythischen Gottheit, mit der ich sie verglichen habe, vollkommen macht. Sie war eine eingefleischte

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