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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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ihrem Herzen regten sich zarte schwesterliche Gefühle für diesen schönen jungen Mann, der neben ihr saß und so ergeben vom Tod sprach.
    « Kann man denn gar nichts mehr tun?», fragte sie.

    Er schüttelte den Kopf und lächelte ein wenig.« Nichts, außer zu versuchen, dem bisschen Leben, das mir noch bleibt, möglichst viel Freude abzugewinnen.»
    Obwohl er lächelte, spürte sie, dass er es sehr ernst meinte, ja dass er zutiefst aufgewühlt war und sich bemühte, seine Gefühle zu beherrschen.
    « Ich fürchte, Sie haben nicht viel Grund zur Freude», erwiderte Agatha.«Sie scheinen ganz allein zu sein.»
    « Ich bin ganz allein. Ich habe keine Familie – keine nahen Verwandten. Ich bin völlig allein.»
    Agatha ließ ihren Blick voller Mitgefühl auf ihm ruhen.«Sie hätten mit uns sprechen sollen.»
    Er sah sie an; er hatte den Hut abgenommen und strich sich mit der Hand langsam über die Stirn.«Sie sehen, ich tue es – endlich!»
    « Sie wollten es schon früher tun?»
    « Sehr oft.»
    « Das habe ich mir gedacht!», sagte Agatha mit einer Offenheit, die allein sie schon adelte.
    « Aber es ging nicht», sagte Mr. Longstaff.«Sie waren nie allein.»
    Ehe Agatha sich’s versah, errötete sie ein wenig, schienen seine Worte, wenn man sie so hörte, doch zu besagen, er hätte sich einzig und
allein an sie gewandt, um die Freuden zu finden, nach denen er sich sehnte. Schon im nächsten Augenblick wurde ihr indes bewusst, was er eigentlich sagen wollte: dass er ihre Gefährtin so sehr bewunderte, dass er Angst vor ihr hatte und sie selbst für eine weitaus weniger furchteinflößende und weniger interessante Persönlichkeit hielt, da er es ja wagte, sie anzusprechen. Die Röte wich sogleich aus ihren Wangen, denn sie empfand keinerlei Groll, der ihr die Farbe weiter ins Gesicht getrieben hätte; und sie empfand auch dann keinerlei Groll, als sie merkte, dass ihr Nachbar sie zwar mit weit offenen, verträumten Augen ansah, mit seinen Gedanken aber viel zu sehr bei Diana weilte, als dass er die Verwirrung bemerkt hätte, die sie einen Moment lang befallen hatte.
    « Ja, das stimmt», sagte sie.«Es ist das erste Mal, dass meine Freundin mich allein lässt.»
    « Sie ist sehr schön», sagte Mr Longstaff.
    « Sehr schön – und ihre Güte steht ihrer Schönheit nicht nach.»
    « Ja, ja», bekräftigte er feierlich,«dessen bin ich gewiss. Ich weiß es!»
    « Ich weiß es noch besser als Sie», sagte Agatha mit einem sanften Lächeln.
    « Dann werden Sie bestimmt umso nachsichtiger
beurteilen, was ich zu sagen habe. Es klingt sehr sonderbar; Sie werden im ersten Moment vielleicht denken, ich sei verrückt. Aber das bin ich nicht; ich bin vollkommen vernünftig. Sie werden schon sehen.»Dann schwieg er einen Moment; seine Stimme hatte wieder zu zittern begonnen.
    « Ich weiß, was Sie sagen wollen», erwiderte Agatha sanft.«Sie sind in meine Freundin verliebt. »
    Mr Longstaff warf ihr einen Blick zu, aus dem tiefe Dankbarkeit sprach. Er hob den Saum des blauen Umschlagtuchs hoch, das er oft an Diana gesehen hatte, und drückte ihn an die Lippen.
    « Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar!», rief er.«Sie halten mich also nicht für verrückt?»
    « Wenn Sie verrückt sind, dann hat es schon eine Menge Verrückte gegeben!», sagte Agatha.
    « Natürlich hat es die gegeben. Das habe ich mir selbst auch gesagt, und es hat mir geholfen. Sie alle haben nichts gewonnen außer den Freuden, die ihre Liebe ihnen schenkte, und deshalb geht es mir, der ich nichts gewinne und nichts habe, nicht schlechter als den anderen. Aber sie hatten mehr als ich, nicht war? Sehen Sie, ich hatte absolut nichts – nicht einmal einen Blick hat sie mir geschenkt», fuhr er fort.«Ich habe
nie gesehen, dass sie mich auch nur eines Blickes gewürdigt hätte. Ich habe nicht nur nie mit ihr gesprochen, ich bin ihr nicht einmal nahe genug gekommen, um überhaupt mit ihr sprechen zu können. Das hier ist alles, was ich je hatte – die Möglichkeit, meine Hand auf etwas zu legen, was sie getragen hat, und doch habe ich im vergangenen Monat Tag und Nacht an sie gedacht. Dort drüben zu sitzen, ein paar hundert Yard entfernt, war mir Glück genug, schlicht, weil sie hier saß, im gleichen Sonnenschein, und auf das gleiche Meer hinausblickte. Ich werde sterben, doch in den letzten fünf Wochen hat mich das am Leben erhalten. Nur dafür bin ich jeden Tag aufgestanden und hierhergekommen; hätte ich das nicht gehabt, wäre ich zu Hause geblieben

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