James, Henry
und nie mehr aufgestanden. Ich habe mich nie darum bemüht, ihr vorgestellt zu werden, weil ich sie nicht wegen nichts und wieder nichts behelligen wollte. Ihr von meiner Bewunderung für sie zu erzählen schien mir anmaßend. Ich habe ihr nichts zu bieten – ich bin nur noch der Schatten eines Lebenden, und sagte ich zu ihr: ‹Gnädiges Fräulein, ich liebe Sie›, so könnte sie nur antworten: ‹Schön, Sir, und nun?› Nichts – nichts! Es kam mir vor, als hätte ich sie in ein offenes Grab blicken lassen, hätte ich ihr gesagt, was
ich für sie empfand. Es war feinfühliger, es nicht zu tun, und so wahrte ich Distanz und schwieg. Selbst dies bereitete mir, wie ich schon sagte, Glück, doch es war ein Glück, das meine Kräfte völlig aufgezehrt hat. Es ist vorbei. Ich muss mich geschlagen geben und der Sache ein Ende machen! »Ein wenig schwer atmend und offenbar erschöpft von seiner langen Rede, hielt er inne.
Agatha hatte immer von Liebe auf den ersten Blick gehört; sie hatte in Gedichten und Liebesromanen davon gelesen, aber sie war ihr nie so nahe gewesen wie jetzt. Sie schien ihr wunderschön, und Agatha glaubte inbrünstig daran. Sie machte Mr Longstaff herrlich interessant; sie umgab seine Züge, seine ganze Person mit einem Glorienschein, verlieh dem flehenden Ton seiner Stimme einen ganz besonderen Klang. Die netten Engländerinnen hatten recht gehabt: Er war fraglos ein vollkommener Gentleman. Sie konnte ihm vertrauen.
« Vielleicht bessert sich Ihr Zustand, wenn Sie eine Weile zu Hause bleiben», sagte sie, um ihn zu beruhigen.
Ihr Ton schien ihn darin zu bestärken, dass sie seine Leidenschaft ganz natürlich und schicklich fand; er streckte die Hand aus und legte sie einen Augenblick auf die ihre.
« Ich wusste, dass Sie vernünftig sind – ich wusste, dass ich mit Ihnen reden kann. Aber mein Zustand wird sich nicht mehr bessern. Sämtliche bedeutenden Ärzte sagen das, und ich glaube ihnen. Wenn der innige Wunsch, aus einem bestimmten Grund gesund zu werden, ein Wunder bewirken und eine tödliche Krankheit heilen könnte, hätte ich dieses Wunder schon vor zwei Monaten erlebt. Gesund zu werden und das Recht zu haben, mit Ihrer Freundin zu sprechen – das war mein innigster Wunsch. Aber es geht mir schlechter denn je; ich bin sehr schwach und werde das Haus nicht mehr verlassen können. Schon heute glaubte ich, ich würde Sie nie mehr sehen, aber ich wollte Ihnen das alles doch noch so gern sagen! Der Gedanke machte mich sehr unglücklich. Was für ein wunderbarer Zufall, dass sie allein fortging! Ich muss dankbar sein; wenn der Himmel schon meine großen Bitten nicht erhört, so erhört er doch meine kleinen. Ich ersuche Sie, mir diesen Gefallen zu tun: Sagen Sie ihr, was ich Ihnen gesagt habe. Nicht jetzt – nicht, bevor ich dahingegangen bin. Behelligen Sie sie nicht damit, solange ich noch lebe. Bitte versprechen Sie mir das. Wenn ich tot bin, wird es weniger aufdringlich erscheinen, weil Sie dann von mir in der
Vergangenheit sprechen können. Es wird sein, als erzählten Sie nur eine Geschichte. Mein Diener wird Sie benachrichtigen. Dann sagen Sie ihr bitte: ‹Du warst sein letzter Gedanke, und es war sein letzter Wunsch, dass du das erfahren sollst.›»Er stand langsam auf und streckte Agatha die Hand entgegen; sein Diener, der in einiger Entfernung gewartet hatte, näherte sich mit unterwürfiger Feierlichkeit, als gehörte es zu seinen Pflichten, sein Auftreten dem Gesprächston seines Herrn anzupassen. Agatha Josling ergriff die Hand des jungen Mannes; er stand vor ihr und sah sie noch einen Augenblick lang an. Auch sie hatte sich erhoben; sie war sehr beeindruckt.
« Sie werden es ihr nicht sagen, bevor …?», fragte er in flehendem Ton. Sie schüttelte den Kopf.« Aber dann werden Sie es ihr auch wirklich sagen? »Sie nickte, er drückte ihr die Hand, nahm, nachdem er den Hut gelüftet hatte, den Arm seines Dieners und entfernte sich langsam.
Agatha hielt ihr Versprechen; sie sagte Diana nichts von der Unterredung. Die jungen Amerikanerinnen kamen auch am folgenden Tag an den Strand und ebenso am nächsten und am übernächsten, und Agatha hielt eifrig nach Mr Longstaff Ausschau. Doch sie schaute vergebens
nach ihm aus – Tag um Tag blieb er fern, und sein Fernbleiben bestätigte seine düstere Prophezeiung. Agatha fand, etwas Wunderbareres könne einer Frau nicht widerfahren, und als sie ihre schöne Gefährtin mit einem Seitenblick streifte, brachte es sie beinahe
Weitere Kostenlose Bücher