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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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Stich zu lassen; er verlangsamte seine Schritte, schaute aufs Meer hinaus und spazierte an ihr vorbei, ohne den Mut zu haben, sie auch nur anzusehen. Danach ging er auf die gleiche Weise wieder an seinen Platz zurück, sank, von seinem ziellosen Spaziergang offenbar ermüdet, auf die Bank und verfiel in melancholische Träumerei. Jede dieser Episoden könnte, für sich betrachtet, den Eindruck erwecken, sein Verhalten sei von einer gewissen Impertinenz gekennzeichnet gewesen, doch das war es keineswegs; in seinem Auftreten lag vielmehr etwas Bedachtsames und Zurückhaltendes, was es vollkommen unaufdringlich erscheinen ließ, und mit Sicherheit vermutete kein Einziger der Müßiggänger am sonnigen Strand dahinter wortlose«Aufmerksamkeiten».
    « Ich frage mich, warum es uns nicht mehr stört, dass er so viel zu uns herüberschaut», sagte Agatha Josling eines Tages.
    « Dass wer zu uns herüberschaut?», fragte Diana ganz und gar nicht heuchlerisch.
    Agatha sah ihre Freundin einen Augenblick lang forschend an und sagte dann sanft:«Mr Longstaff. Jetzt frag nur nicht: ‹Wer ist Mr Longstaff?›», fügte sie hinzu.
    « Ich habe noch gar nicht bemerkt, dass die
Person, die du offenbar meinst, zu uns herüberschaut», sagte Diana.«Ich habe ihn noch nie dabei ertappt.»
    « Weil er immer wegsieht, wenn du zu ihm hinüberschaust. Er hat Angst, deinem Blick zu begegnen. Aber ich sehe ihn.»
    Diese Unterhaltung fand an einem Tag statt, an dem die beiden Freundinnen wie gewöhnlich am funkelnden Meer saßen. Ein Stück von ihnen entfernt hatte sich, ebenfalls wie gewöhnlich, Reginald Longstaff auf seiner Bank niedergelassen. Diana neigte den Kopf ein wenig vor und blickte zu ihm hinüber. Er sah sie direkt an, und ihre Blicke trafen sich, offenbar zum ersten Mal. Diana schlug die Augen nieder und richtete sie wieder auf ihr Buch.«Es stört mich sehr wohl», sagte sie nach kurzem Schweigen und fügte gleich darauf hinzu, sie wolle nach Hause gehen und einen Brief schreiben. Und obwohl Diana in Europa noch keinen einzigen Schritt ohne Agatha getan hatte, ließ Miss Josling sie nun ohne Begleitung aufbrechen.«Es macht dir doch nichts aus, allein zu gehen?», hatte Agatha gefragt.«Es sind ja nur drei Minuten.»
    Diana hatte geantwortet, sie ziehe es sogar vor, allein zu gehen, und entfernte sich mit ihrem Sonnenschirm auf der Schulter.

    Agatha Josling hatte einen ganz bestimmten Grund, warum sie von ihrer gewohnten Sittsamkeit abwich. Sie war plötzlich überzeugt gewesen, wenn sie allein zurückbliebe, würde Mr Longstaff zu ihr herüberkommen, um ihr etwas sehr Wichtiges zu sagen, und sie gab dieser Überzeugung nach, ohne das Gefühl zu haben, etwas Unschickliches zu tun. Etwas Erhabenes lag darin; es war eine Art Vorahnung, doch das schreckte Agatha nicht; sie kam sich vielmehr äußerst liebenswürdig und verständnisvoll vor. Allerdings verspürte sie dann doch eine gewisse Beklommenheit, als sie nach zehn Minuten (die ihr sehr lang erschienen waren) den jungen Mann von der Bank aufstehen und langsam auf sich zukommen sah. Mr Longstaff kam immer näher; schließlich hatte er sie fast erreicht; er blieb stehen und sah sie an. Sie hatte den Kopf abgewandt, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie erwarte ihn; doch jetzt drehte sie sich wieder um, und er zog feierlich den Hut.
    « Darf ich so frei sein, mich zu setzen?», fragte er.
    Agatha nickte schweigend und entfernte, um ihm Platz zu machen, ein blaues Tuch, das Diana gehörte und das diese liegengelassen hatte. Er ließ sich langsam auf die Bank sinken und sagte
dann ganz leise:«Ich wage es, Sie anzusprechen, weil ich Ihnen unbedingt etwas sagen muss.»Seine Stimme zitterte, und er war sehr blass. Seine Augen, die Agatha ausnehmend hübsch fand, hatten einen merkwürdigen Ausdruck.
    « Sie sind krank, nicht wahr», sagte sie mit großer Herzlichkeit.«Ich habe Sie oft gesehen und Sie bedauert.»
    « Ich dachte mir schon, dass ich Ihnen ein wenig leid tue», erwiderte der junge Mann.«Deshalb habe ich mich auch entschlossen, mit Ihnen zu sprechen.»
    « Ihr Zustand verschlechtert sich», sagte Agatha sanft.
    « Ja, mein Zustand verschlechtert sich; ich werde sterben. Ich bin mir dessen vollkommen bewusst, ich mache mir da keine Illusionen. Mit jedem Tag werde ich schwächer; mir bleiben nur noch ein paar Wochen.»Er sagte dies in aller Schlichtheit, wehmütig, aber nicht klagend.
    Agatha jedoch fühlte sich von ehrfürchtiger Bewunderung nahezu überwältigt; in

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