James, Henry
auf, sie so unbekümmert und gelassen dasitzen zu sehen, während ein armer junger Mann gleichsam aus Liebe zu ihr im Sterben lag. Zuweilen fragte sie sich, ob es denn, ungeachtet ihres Versprechens, nicht ihre christliche Pflicht sei, Diana seine Geschichte zu erzählen und ihr die Möglichkeit zu geben, zu ihm zu gehen. Doch dann befürchtete Agatha, die sehr wohl wusste, dass ihre Gefährtin einen gewissen majestätischen Stolz besaß, an dem es ihr selbst mangelte, Diana könnte sich weigern, etwas zu unternehmen, auch wenn sie von seinem Zustand erführe, und dies mit ansehen zu müssen, erschien ihr gar zu schmerzlich. Außerdem hatte sie ihr Wort gegeben, und sie hielt stets ihr Wort. Doch ihre Gedanken kreisten fortwährend um Mr Longstaff und die Romantik dieser Liebesgeschichte. Darüber wurde sie ganz melancholisch, und sie sprach viel weniger als sonst. Plötzlich wurde sie durch eine Äußerung Dianas aus ihrer Träumerei gerissen, die beiläufig fragte, was wohl aus dem einsamen
jungen Mann geworden sein mochte, der auf der Nachbarbank zu sitzen pflegte und ihnen die Ehre angedeihen ließ, sie anzustarren.
Beinahe zum ersten Mal in ihrem Leben verstellte Agatha Josling sich vorsätzlich.
« Entweder ist er abgereist, oder er muss das Bett hüten. Sicher liegt er, einsam und allein, in irgendeiner elenden gemieteten Unterkunft im Sterben.»
« Ich will lieber an etwas Erfreulicheres glauben», sagte Diana.«Ich glaube, er ist nach Paris gereist und sitzt gerade bei einem erlesenen Mahl in einem ausgezeichneten Restaurant.»
Agatha schwieg einen Augenblick, dann wagte sie die Bemerkung:«Ich glaube, dir ist vollkommen gleichgültig, was aus ihm wird.»
« Mein liebes Kind, warum sollte es mir nicht gleichgültig sein?», fragte Diana.
Und Agatha Josling musste einräumen, dass diese Frage durchaus berechtigt war. Doch dann geschah etwas, was die Sache in einem anderen Licht erscheinen ließ. Drei Tage später unternahm sie mit ihrer Freundin eine lange Spazierfahrt, von der sie erst bei Einbruch der Dämmerung zurückkehrten. Als sie vor ihrer Unterkunft aus der Kutsche stiegen, bemerkte Agatha eine Gestalt, die, ein wenig abseits, auf der Straße
stand und ihr selbst in der einbrechenden Dunkelheit irgendwie vertraut vorkam. Ein zweiter Blick bestätigte ihr, dass es sich um Mr Longstaffs Diener handelte, der dort in der Hoffnung wartete, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie beschloss unverzüglich, sie ihm reichlich zuteil werden zu lassen. Diana stieg aus dem Wagen und ging ins Haus, während der Kutscher glücklicherweise nach Anweisungen für den nächsten Tag fragte. Agatha gab kurz die nötigen Anordnungen und wandte sich dann, ehe sie ebenfalls ins Haus ging, der wartenden Gestalt zu. Diese näherte sich, den Hut in der Hand, auf Zehenspitzen und schüttelte tiefbetrübt den Kopf.
Aus der Miene des alten Mannes sprach lebhafter Kummer, was darauf hindeutete, dass Mr Longstaff ein großzügiger Brotherr war. Er wandte sich in jenem mit Wendungen aus anderen Sprachen durchsetzten Französisch an Miss Josling, wie es für gewöhnlich italienische Dienstboten sprechen, die in der Welt herumgekommen sind.
« Ich habe mich vom Bett meines teuren Herrn fortgestohlen, um kurz mit Ihnen zu sprechen. Die alte Frau am Obststand drüben sagte mir, Sie seien ausgefahren, also habe ich gewartet;
aber es kam mir vor wie tausend Jahre, bis Sie endlich zurückkehrten!»
« Sie haben Ihren Herrn doch nicht allein gelassen?», fragte Agatha.
« Zwei Barmherzige Schwestern kümmern sich um ihn – der Himmel vergelte es ihnen! Sie wachen Tag und Nacht bei ihm. Es geht ihm sehr schlecht, pauvre cher homme 9 !»Der alte Mann sah die junge Dame mit jenem unbefangenen, leutseligen, wohlwollenden Blick an, mit dem Italiener aus allen Schichten die gesellschaftliche Kluft überbrücken. Agatha war überzeugt, dass er das Geheimnis seines Herrn kannte und dass sie offen mit ihm darüber sprechen konnte.
« Stirbt er?», fragte sie.
« Das ist die Frage, verehrtes Fräulein! Es geht ihm sehr schlecht. Die Ärzte haben ihn aufgegeben, aber die Ärzte wissen ja auch nicht, woran er leidet. Sie haben seinen teuren Körper von oben bis unten abgetastet, sie haben seine Lungen abgehört, sich seine Zunge angesehen und seinen Puls gemessen; sie wissen, was er isst und trinkt – das ist schnell erzählt! Aber in sein Gemüt , verehrtes Fräulein, haben sie nicht hineingesehen. Ich schon, und insofern bin ich ein
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