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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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besserer Arzt als sie. Ich kenne sein Geheimnis – ich weiß, dass er das schöne Mädchen da oben
liebt!»Bei diesen Worten deutete der alte Mann auf die oberen Fenster des Hauses.
    « Hat Ihr Herr Sie ins Vertrauen gezogen?», fragte Agatha.
    Er zögerte kurz, dann schüttelte er ein wenig den Kopf, legte die Hand aufs Herz und sagte:« Ach, verehrtes Fräulein, die Frage ist doch, ob ich ihn ins Vertrauen gezogen habe. Ich gebe zu, ich habe es nicht getan, sein Zustand ist zu schlecht. Aber ich habe beschlossen, sein Arzt zu sein und ein Mittel auszuprobieren, an das die anderen gar nicht gedacht haben. Wollen Sie mir helfen?»
    « Wenn ich kann», sagte Agatha.«Welches Mittel meinen Sie?»
    Wieder deutete der alte Mann auf die oberen Fenster des Hauses.
    « Ihre liebreizende Freundin! Sorgen Sie dafür, dass sie an sein Bett kommt.»
    « Wie sollte ihm das helfen», fragte Agatha,« wo er doch im Sterben liegt?»
    « Er liegt im Sterben, weil sie nicht bei ihm ist. Zumindest ist das meine Meinung, und ich denke, es ist einen Versuch wert. Wenn ein junger Mann, der eine schöne Frau liebt und kein einziges Mal auch nur die Fingerspitzen ihres Handschuhs berührt hat, todkrank wird und dahinsiecht,
bedarf es keines klugen Kopfes, um zu erkennen, dass seine Krankheit nicht von allzu großer Zügellosigkeit herrührt. Ganz im Gegenteil! Wird er zusehends schwächer, wenn Ihre Freundin nicht da ist, bessert sich sein Zustand ja vielleicht, wenn sie da ist. Das jedenfalls ist meine Theorie, und jede Theorie ist gut, die einen Sterbenden zu retten vermag. Sorgen Sie dafür, dass die junge Dame kommt, einen Augenblick an seinem Bett steht und ihre Hand auf die seine legt. Wir werden sehen, was passiert. Wird er gesund, war es der Mühe wert; wenn nicht, hat sich Ihre Freundin nichts vergeben. Eine junge Dame riskiert nichts, wenn sie einen armen Gentleman besucht, der, von zwei Ordensfrauen behütet, wie betäubt daliegt.»
    Agatha war von dieser anschaulichen Argumentation tief beeindruckt, erwiderte aber, es sei ganz und gar unmöglich, dass ihre schöne Freundin ohne besondere Einladung von Mr Longstaff diesen frommen Gang anträte. Ja, Agatha war sich keineswegs sicher, dass Diana gehen würde, selbst wenn er sie darum bäte, zu ihm zu kommen; fest stand jedoch, dass sie einen derart außerordentlichen Schritt nicht auf den bloßen Vorschlag eines Dienstboten hin tun würde.
    « Aber Sie, verehrtes Fräulein, Sie haben das
Glück, kein Dienstbote zu sein», entgegnete der alte Mann.«Unterbreiten Sie ihr den Vorschlag als den Ihren.»
    « Käme er von mir, hätte er wenig Gewicht, denn woher sollte ich denn etwas über Ihren armen Herrn wissen?»
    « Sie haben Ihrer Freundin nicht erzählt, was mein teurer Herr Ihnen kürzlich gesagt hat?»
    Agatha beantwortete seine Frage mit einer Gegenfrage.«Hat er Ihnen erzählt, was er mir gesagt hat?»
    Der alte Mann tippte sich an die Stirn und lächelte.
    « Sehen Sie, verehrtes Fräulein, einem guten Diener braucht man nie etwas zu sagen! Wenn Sie die Worte meines Herrn der Signorina noch nicht mitgeteilt haben, bitte ich Sie inständig, es jetzt zu tun. Ich fürchte, sie ist recht kaltherzig. »
    Agatha sah einen Augenblick zu den Fenstern hinauf und nickte dann schweigend. Sie fand es äußerst verwunderlich, dass sie mit diesem betagten Domestiken Dianas Charakter erörterte; doch die Situation war so befremdlich und romantisch, dass die alten Marksteine der Schicklichkeit längst unkenntlich geworden waren und es ihr ganz natürlich vorkam, dass ein italienischer
valet de chambre 10 so offen und vertraulich mit ihr sprach wie ein Diener in einer altmodischen Komödie.
    « Ich glaube versprechen zu können, dass mein teurer Herr nach der jungen Dame schicken wird, wenn dies erforderlich ist», fuhr Mr Longstaffs Diener fort.«Aber ich bitte Sie eindringlich, inzwischen mit ihr zu sprechen. Zeigt sie sich kaltherzig, entfachen Sie ihre Herzenswärme! Bereiten Sie sie darauf vor, dass sein Zustand sie sehr berühren wird. Wenn Sie ihn sehen könnten, den armen Gentleman, wie er so still und schön daliegt, als wäre er seine eigene Grabstatue auf einem campo santo 11 , weckte er sicherlich Ihre Anteilnahme.»
    Dies schien Agatha ein äußerst anrührendes Bild, doch wurde ihr plötzlich bewusst, dass ihr nun schon ungebührlich lange dauerndes Gespräch mit Mr. Longstaffs Repräsentanten den Charakter einer nächtlichen Unterredung annahm. Sie beendete es abrupt, nachdem

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