Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
Vom Netzwerk:
seelischen Gleichgewicht gebrachten jungen Mann gegenüber unmöglich weniger hilfsbereit, weniger mitleidsvoll verhalten, als ich es bei jener Gelegenheit tat. Aber sehr bald schon boten sich Mr Tester weitere Gelegenheiten, seinen Appell mit größerer Beredsamkeit zu erneuern. Er versicherte mir, mit seiner Zukünftigen zusammen zu sein bedeute für ihn die reinste Folter und jede Stunde, in der er die Verlobung nicht löse, binde ihn nur noch enger und unwiderruflicher an sie. Ich wiederholte ein einziges Mal die Frage, die ich ihm bereits kurz zuvor gestellt hatte – fragte ihn ein einziges Mal, warum er ihr dann nicht sage, dass er seine Meinung geändert
habe. Die Frage war müßig, ja sogar herzlos, denn mein junger Mann befand sich in einer sehr schwierigen Lage. Er sagte es ihr nicht, weil er es schlicht nicht konnte, obwohl er qualvoll spürte, dass seine Chance, seinen Fehler zu korrigieren, schnell dahinschwand. Als ich ihn fragte, ob Joscelind denn nichts zu ahnen schien, sprudelte es aus ihm heraus:«Wie um alles in der Welt soll sie etwas ahnen, wo ich doch so nett zu ihr bin? Sie tut mir so leid, das arme kleine Ding, dass ich einfach nett zu ihr sein muss. Und sobald ich nett zu ihr bin, denkt sie, es ist alles in Ordnung.»
    Ich verstand sehr gut, was er damit meinte, und ich mochte ihn dieses edelmütigen Zuges wegen mehr, als ich ihn seines schändlichen Vorhabens wegen nicht mochte. Tatsächlich konnte von Nichtmögen keine Rede sein, als ich sah, welchen Einfluss mein Urteil auf ihn haben würde. Ich ließ ihn sehr bald in dessen vollen Genuss kommen. Ich hatte seinen Fall gründlich durchdacht, wobei es von großem Vorteil war, dass ich die Einzelheiten von ihm selbst erfahren hatte, und ich sah keinerlei Möglichkeit, wie er das Mädchen auf anständige Weise loswerden konnte. Das war, wie ich schon sagte, bereits meine ursprüngliche Meinung gewesen,
und weiteres Abwägen bestätigte mich nur darin. Wie ich ebenfalls schon sagte, hatte ich ihm in keiner Weise empfohlen, sich zu verloben; als er sich dann verlobt hatte, empfahl ich ihm allerdings, dazu auch zu stehen. Es war ja schön und gut, wenn er in Lady Vandeleur verliebt war; er mochte in sie verliebt sein, aber er hatte nicht versprochen, sie zu heiraten. Es war ja schön und gut, wenn er in Miss Bernardstone nicht verliebt war; aber sie hatte er nun einmal versprochen zu heiraten, und in meiner Heimat erwartet man von einem Gentleman, dass er solche Versprechen hält. Wo kämen wir denn hin, wenn man sie nur so lange hielte, wie es einem gerade passt? Ich versichere Ihnen, ich wurde sehr beredt und argumentierte moralisch – ja, moralisch, ich bleibe bei dem Wort, auch wenn Sie vielleicht der Ansicht sind (was ich mir bei Ihnen durchaus vorstellen könnte), ich hätte ihm genau zum Gegenteil raten sollen. Es ging nicht um Liebe, sondern ums Heiraten, denn er hatte ja nie versprochen, die arme Joscelind zu lieben. Vergebens machte er geltend, es sei schrecklich, ohne Liebe zu heiraten; so dächte er nun einmal, und die Menschen in seiner Umgebung dächten auch so – nichts dergleichen half ihm. Die Hälfte seiner Freunde hatte schließlich unter solchen
Bedingungen geheiratet.«Ja, und welch ein Bild des Jammers bietet ihr Privatleben!»Das mag ja sein, aber es war das allererste Mal, dass ich ihn das hatte sagen hören. Vierzehn Tage zuvor war er durchaus noch bereit gewesen zu tun, was die anderen taten. Ich hatte jedoch meine eigene Meinung, und vermutlich drückte ich mich recht deutlich aus, denn meine Argumente bewirkten, dass er sich noch unbehaglicher fühlte, konnte er sie doch weder akzeptieren noch ihnen einfach zuwiderhandeln. Warum er so viel Wert auf meine Meinung legte, ist ein Geheimnis, das ich nicht zu erhellen vermag; um meine kleine Geschichte zu verstehen, müssen Sie das einfach schlucken. Dass er Wert darauf legte, beweist die Erbitterung, mit der er plötzlich hervorstieß:«Wenn ich Sie richtig verstehe, dann empfehlen Sie mir, Miss Bernardstone zu heiraten und mit Lady Vandeleur ein Liebesverhältnis zu unterhalten!»
    Er wusste nur zu gut, dass ich nichts dergleichen empfahl, und er muss sehr verärgert gewesen sein, da er sich zu dieser boutade 11 hinreißen ließ. Er erklärte, andere Leute dächten nicht so wie ich – alle hielten es geradezu für eine moralische Pflicht, nicht zu zögern, wenn es darum gehe, sich zwischen einer Frau, die er nicht liebte,
und einer Frau, die er seit Jahren anbetete,

Weitere Kostenlose Bücher