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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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doch ich konnte mir eine solche Unterredung mit Lady Vandeleur wirklich nicht vorstellen. Ich fragte mich, warum er es ihr nicht
selbst sagte und welchen besonderen Wert es haben konnte, wenn die Mitteilung von mir kam. Dann sagte ich mir, dass er natürlich ihr gegenüber die Wahrheit erwähnt hatte, mit der ich ihn konfrontiert hatte (und die er inzwischen offenbar begriffen hatte), doch damit sie auch bei Lady Vandeleur ihre Wirkung tun konnte, bedurfte es der Bestätigung durch einen unabhängigeren Zeugen. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie aufzusuchen, und ich tat es gleich am nächsten Tag, wobei mir vollkommen bewusst war, dass ich, um Mr Testers Auftrag ausführen zu können, selbst sehr beherzt auftreten oder aber sie mich wider Erwarten ins Vertrauen ziehen musste, und dass ich zudem darauf gefasst sein musste, gar nicht vorgelassen zu werden. Doch sie empfing mich, und das Haus in der Upper Brook Street war genauso trist, wie Ambrose Tester es geschildert hatte. Der Dezembernebel (der Nachmittag war sehr dämmerig) schien in die Zimmer mit den verhüllten Möbeln einzudringen und das rosaschimmernde Licht von Lady Vandeleurs Lampe vergebens gegen die düstere Atmosphäre anzukämpfen. Mr Tester hatte mir gegenüber erwähnt, der Erbe des Titels (ein Vetter ihres Gatten), der sie mehrere Monate lang unbehelligt gelassen hatte,
nehme nun alles in Besitz; sie halte sich nur in der Stadt auf, um«auszusortieren», was sie diesem noch zu übergeben hatte, und um einige Formalitäten im Zusammenhang mit ihrem Wittum 13 zu erledigen. Dieses war sehr reichlich bemessen, und die großzügige Vorsorge, die ihr Mann für sie getroffen hatte, schloss das Londoner Haus ein. Lady Vandeleur war bei dieser Gelegenheit sehr zuvorkommend, hatte aber fraglos bemerkenswert wenig zu sagen. Dennoch war sie anders, oder zumindest sah ich sie (nach jener Andeutung) anders. Ich erkannte, dass ich sie nie ganz richtig beurteilt hatte, dass ich ihre Steifheit übertrieben, ihr eine Art bewusster Grandezza zugeschrieben hatte, die in Wirklichkeit mehr von ihrer Erscheinung, ihrer Gestalt ausging, als dass sie ein Charakterzug gewesen wäre. Sie ist, wie Sie wissen, eine beeindruckende Erscheinung, und an dem Tag, von dem ich spreche, war sie unter dem schwach schimmernden lambris 14 in ihrer schlicht gehaltenen Trauerkleidung so schön wie eine wundervolle weiße Lilie. Sie ist sehr unkompliziert und freundlich; sie wird nie den ersten Schritt tun, um auf jemanden zuzugehen, aber sie wird immer darauf reagieren, wenn ein anderer ihn tut, und an jenem Abend erkannte ich, dass
man am besten mit ihr auskam, wenn man sie behandelte, als wäre sie nicht allzu imposant. Ich erkannte auch, dass sie, trotz ihres nonnenähnlichen Gewandes und ihrer matten Augen, eine Frau war, die unsterblich verliebt sein mochte. Trotz alledem hatten wir einander nicht viel zu sagen. Sie bemerkte, dass es sehr liebenswürdig von mir sei, sie zu besuchen, dass sie sich frage, wie ich London um diese Jahreszeit ertragen könne, dass sie eine Ausfahrt unternommen und den Park ganz schrecklich gefunden habe, dass sie anderen Tee kommen lassen würde, wenn mir der nicht schmecke, den sie mir serviert hatte. Unsere Unterhaltung bewegte sich, etwas holprig, zwischen diesen Platitüden hin und her, doch von keiner Seite fiel eine Anspielung auf Ambrose Tester. Dennoch war Lady Vandeleur, wie ich schon sagte, anders als erwartet, auch wenn ich erst später, zu Hause, in Worte zu fassen vermochte, was mir an ihr aufgefallen war.
    Als ich mich dann an ihr weißes Gesicht und den unergründlichen, sonderbaren Ausdruck in ihren schönen Augen erinnerte, stellte ich mir vor, sie stünde unter dem Einfluss eines«unterdrückten inneren Aufruhrs». Je mehr ich über sie nachdachte, desto unnatürlicher erschien sie
mir; es kam mir vor, als hätte sie sich äußerlich zu einer Ruhe gezwungen, unter der große Erregung brodelte. Das wäre Unsinn gewesen, hätte ich nicht zwei Tage später ein Billet von ihr erhalten, das mir eindeutig das Produkt eines solchen« inneren Aufruhrs»zu sein schien. Natürlich nicht auf den ersten Blick; ein zufälliger Leser hätte nichts Auffälliges darin gesehen. Aber das Eigentümliche daran war gerade, dass Lady Vandeleur mir ein Billet schrieb, in dem sie mir offenbar nichts weiter mitteilte, als dass sie mich gern noch einmal sehen möchte, ein Wunsch, für den sie einen durchaus plausiblen Grund anzuführen vermochte. Sie

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