James, Henry
vor, und fragte mich, ob ich das denn nicht wisse. Ich erkannte, dass dies meine Chance war, und rief sogleich mit äußerstem Nachdruck:« Ach, um Himmels willen, hören Sie nicht auf ihn! Es würde Miss Bernardstone umbringen! »
Der Tonfall in meiner Stimme ließ sie ein wenig erröten, und sie wiederholte:«Miss Bernardstone? »
« Das Mädchen, mit dem er verlobt ist – oder war –, wissen Sie das denn nicht? Verzeihen Sie, ich dachte, jeder wüsste es.»
« Natürlich weiß ich, dass er in einer schrecklich verzwickten Lage ist. Es wurde ja regelrecht Jagd auf ihn gemacht.»Lady Vandeleur schwieg einen Moment und fügte dann mit einem seltsamen Lächeln hinzu:«Stellen Sie sich vor, in einer solchen Situation will er mich heiraten!»
« Mir vorstellen!», erwiderte ich. Ich war so verblüfft über die befremdliche Bereitwilligkeit, mit der sie mir ihre Geheimnisse erzählte, dass ich im ersten Augenblick gar nicht empört war – empört darüber nämlich, dass sie die arme Lady Emily (und sogar das Mädchen selbst) beschuldigte, unseren Freund«in eine Falle gelockt»
zu haben. Später sagte ich mir, ich sei wohl der Ansicht gewesen, es stehe ihr durchaus zu, ihre Rivalin schlecht zu machen, wenn sie sich denn nur aufrichtig bemühe, ihn freizugeben.«Ich weiß nichts von einer Jagd auf ihn», sagte ich,« aber eines weiß ich, Lady Vandeleur: Ich versichere Ihnen, sollte er Joscelind sitzenlassen, wird sie sterben – einfach so!»Dabei schnalzte ich mit den Fingern.
Lady Vandeleur hörte sich das recht gelassen an; sie gab sich zumindest Mühe, den Eindruck einer Frau zu erwecken, die keiner weiteren Argumente bedarf.«Kennen Sie sie sehr gut?», fragte sie, als habe es sie überrascht, dass ich Miss Bernardstone beim Vornamen nannte.
« Gut genug, um sie sehr zu mögen.»Ich war im Begriff gewesen, zu sagen:«um sie zu bedauern», besann mich aber eines Besseren.
« Sie muss ein Mensch mit sehr wenig Lebensmut sein. Ich glaube nicht, dass ich sterben würde, wenn mir ein Mann den Laufpass gäbe!», rief Ihre Ladyschaft lachend.
« Nichts ist wahrscheinlicher, als dass sie nicht Ihren Mut oder Ihre Weisheit besitzt. Sie mag schwach sein, aber sie ist leidenschaftlich in ihn verliebt.»Dabei sah ich Lady Vandeleur direkt in die Augen, und mir war klar, dass Letzteres auch
eine leidlich gute Beschreibung meiner Gastgeberin war.
« Glauben Sie, sie würde tatsächlich sterben?», fragte sie nach einer Weile.
« Geradeso, als erstäche man sie mit einem Messer. Manche Leute glauben nicht, dass man an gebrochenem Herzen sterben kann», fuhr ich fort.«Ich habe es auch nicht geglaubt, bis ich Joscelind Bernardstone kennengelernt habe; da spürte ich, dass sie ein Herz hat, das dagegen nicht gefeit ist.»
« Man sollte leben – man sollte immer leben», sagte Lady Vandeleur,«und immer den Kopf hochhalten.»
« Ach, ich glaube, man sollte überhaupt keine Gefühle haben, wenn man wirklich gesellschaftlich erfolgreich sein will.»
« Was verstehen Sie unter ‹wirklich erfolgreich sein›?»
« Nie in die Lage zu kommen, bedauert zu werden.»
« Bedauert zu werden? Das muss abscheulich sein!», sagte sie, und mir wurde klar, dass sie zwar vielleicht bewundert, aber niemals bedauert werden wollte. Dann fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, ihrer Meinung nach seien Männer sehr niederträchtig – eine Bemerkung,
die zwar scharfsinnig, aber wohl nicht ganz aufrichtig war, sollte sie mir doch die Vorstellung vermitteln, Ambrose Tester habe nichts anderes getan, als Lady Vandeleur zu bedrängen, und diese habe nichts anderes getan, als sich seinem Werben zu widersetzen. Sie waren schon sehr sonderbar, die Unstimmigkeiten in den Äußerungen der beiden Seiten; doch muss man zu Lady Vandeleurs Gunsten sagen, dass sie sich nun, da sie (wie ich glaubte) den Entschluss gefasst hatte, sich zu opfern, tatsächlich einredete, sie hätte keinen Moment lang Schwäche gezeigt. Sie schüttete mir ihr Herz aus, und ich stand ihr in ihrer Krise aufrecht zur Seite. Sie schien doch ein Gewissen zu haben – ein sehr feines sogar, und eine hohe Auffassung von der Pflicht. Sie tat so, als setzte sie Himmel und Erde in Bewegung, um Ambrose Tester in die Schranken zu weisen, und nach dem, was sie mir erzählte, hätte man nie vermutet, dass sie, wie vage auch immer, je mit dem Gedanken gespielt hatte, ihn zu heiraten. Ich bin sicher, es war eine schreckliche Verdrehung der Tatsachen, aber ich verzieh sie ihr jenes
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