James, Henry
erinnerte mich daran, dass sie keine Besuche mache, hoffe aber, ich bestünde nicht auf der Einhaltung der Etikette und käme sehr bald wieder bei ihr vorbei, sie habe meinen Besuch so sehr genossen. Wir hatten bisher nicht brieflich miteinander verkehrt, und bei jenem Besuch hatte sich nichts ereignet, was unsere Beziehung verändert hätte; zudem hätte sie sechs Monate zuvor noch nicht im Traum daran gedacht, sich auf diesem Wege an mich zu wenden. Ich war deshalb doppelt davon überzeugt, dass sie eine Krise durchmachte – dass sie ihr seelisches Gleichgewicht verloren hatte. Mr Tester war seit jener Gelegenheit, die ich ausführlich
beschrieben habe, nicht mehr bei mir aufgetaucht, und ich hielt es für möglich, dass er sich zu der Heldentat durchgerungen hatte, die Stadt zu verlassen. Ohnehin befürchtete ich nicht, ihm in der Upper Brook Street zu begegnen, denn meiner Theorie über seine Beziehung zu Lady Vandeleur zufolge verbrachte er seine Abende bei ihr, stand für mich doch außer Frage, dass sie regelmäßig zusammen dinierten. Ich konnte auf Lady Vandeleurs Billet nur mit einem Besuch am nächsten Tag antworten, bei dem ich jene meine Vorstellung von einer Krise reichlich bestätigt fand. Ich muss Ihnen vorweg gestehen, dass ich ihr Verhalten nie ganz verstanden habe; nie verstanden habe, weshalb sie mich so plötzlich – wenn auch mit einigen Vorbehalten und nur stillschweigend – ins Vertrauen zog. Ich kann dazu nur sagen, dass dies etwas ist, womit man bei Engländern rechnen muss, die, meiner Meinung nach und im Widerspruch zu dem, was allgemein über sie erzählt wird, die mitteilsamsten, überschwenglichsten und ihren Gemütszustand am offensten zeigenden Menschen auf der ganzen Welt sind. Ich glaube, sie fühlte sich damals recht ausgeschlossen, hatte sie doch ohnehin nie viele Vertraute unter ihren Geschlechtsgenossinnen gehabt. Diese missbilligten
im Allgemeinen ihr Vorgehen während der vergangenen Monate, sie waren der Meinung, sie ließe Joscelind Bernardstone gar zu grausam leiden. Möglicherweise fühlte sie, wie schwer dieser Tadel wog; jedenfalls war ihr außerordentlich viel daran gelegen, jemanden wissen zu lassen, dass wenn dem Mädchen, mit dem Mr Tester sich so törichterweise verlobt hatte, eine wie auch immer geartete Kränkung zugefügt worden sei, dies, soweit es sie betreffe, nicht mutwillig geschehen sei. Ich war da, ich kannte ihre Situation mehr oder weniger, und ich eignete mich geradeso gut wie jeder andere.
Sie schien wirklich erfreut, mich zu sehen, war aber sehr nervös. Es verging indes fast eine halbe Stunde, und ich überlegte schon, ob sie nur nach mir geschickt hatte, um mit mir zu erörtern, wie ein Londoner Haus, dessen Ausstattung den Stempel einer aus der Mode gekommenen Periode trug (1850 hatte man es für sehr ansehnlich gehalten), instand gesetzt werden konnte, ohne dass es ästhetisch wirkte. 15 Ich habe vergessen, wie ich mich dazu äußerte; ich überlegte, wie ich auf das Thema zu sprechen kommen könnte, dessentwegen Joscelinds Zukünftiger mich hergeschickt hatte. Schließlich jedoch enthob mich zu meiner großen
Überraschung Lady Vandeleur selbst dieser Mühe.
« Ich glaube, Sie kennen Mr Tester recht gut», bemerkte sie unvermittelt und beiläufig; aus ihrer Miene sprach deutlicher, als ich es je bei ihr gesehen hatte, dass sie sich der Tragweite der Angelegenheit bewusst war. Als ich eine solche Bekanntschaft eingestand, erklärte sie, Mr Tester (der sich einige Tage in London aufgehalten habe – vielleicht hätte ich ihn ja gesehen) habe die Stadt verlassen und komme erst in einigen Wochen zurück. Dies schien für den Augenblick alles, was sie mir mitzuteilen hatte; doch sie sah mich von ihrer Ecke des Sofas her an, als wünschte sie, ich würde die Gelegenheit irgendwie nutzen, die sie mir eröffnet hatte. Bedurfte diese stolze, unergründliche Frau der Hilfe eines Außenstehenden und war sie gezwungen, Notsignale auszusenden? Wollte sie vor sich selbst geschützt werden – Beifall erhalten für die Anstrengungen, die sie selbst bereits unternommen hatte? Ich überstürzte nichts, ich eilte ihr nicht gleich zu Hilfe, denn ich war überzeugt, dass ich meinen Auftrag nun ganz nach meinem Belieben ausführen konnte. Mir ging es nicht darum, zu verhindern, dass Lady Vandeleur Mr Tester heiratete, sondern darum, zu verhindern,
dass Mr Tester sie heiratete. Gleich darauf erklärte sie – mit derselben Beiläufigkeit –, er habe ebendies
Weitere Kostenlose Bücher