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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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in dem größeren, reicher ausgestatteten Zimmer verbracht hätte. Dort pflegte er seine Freunde zu empfangen – bald in großer
Zahl, bald zu ausgelassenen, vom Gewirr vieler Stimmen begleiteten Soupers, die bis tief in die Nacht hinein dauerten. Waren diese geselligen Unterhaltungen zu Ende, begab er sich nie sofort in seine kleine Gelehrtenzelle hinüber. Er ging vielmehr aus und wanderte eine Stunde durch die dunklen, schlafenden Straßen der Stadt, befreite sich auf diese Weise vom Weindunst und fühlte sich ganz und gar nicht berauscht, sondern völlig, ja wunderbar nüchtern. Mehr als einmal sah er, wenn er sich nach seiner Rückkehr zum Zubettgehen bereitmachte, den ersten schwachen Schimmer der Morgendämmerung zitternd über den Baumwipfeln in seinem Garten heraufziehen. Freunde, die ihn besuchen wollten, fanden den größeren Raum oft leer und klopften an die Tür seiner Kammer. Aber häufig rührte Benvolio sich nicht, da er nicht den geringsten Wunsch verspürte, sie zu sehen, wusste er doch, was sie sagen würden, und hielt es nicht der Mühe wert, es sich anzuhören. Hörte er sie dann weggehen und die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss fallen, kam er heraus, machte in seinen Pantoffeln die Runde über seine Perserteppiche, schaute aus dem Fenster und sah seine abgewiesenen Besucher auf dem sonnigen Platz stehen und sich am Kinn kratzen. Dann
lachte er leise in sich hinein – wie es Mitglieder der schreibenden Zunft angeblich in produktiven Momenten zu tun pflegen.
    Obwohl er viele Verwandte hatte, genoss er außerordentliche Freiheit. Seine Familie war so groß, seine Geschwister waren so zahlreich, dass er fernbleiben konnte, ohne vermisst zu werden. Zuweilen machte er von diesem Privileg freizügig Gebrauch; er wurde der Menschen, die er sehr häufig sah, überdrüssig, und natürlich sah er seine Familie oft. Dann wieder war er ausgesprochen häuslich; er fand die Einsamkeit plötzlich bedrückend, und ihm schien, wenn man schon in der Gesellschaft anderer Zuflucht suchte, so sollte man mit ihnen auf vertrautem Fuße stehen, und nie war Vertrautheit seiner Meinung nach so natürlich wie unter Menschen, die um einen gemeinsamen Kamin aufgewachsen waren. Dennoch ging ihm häufig durch den Kopf – denn früher oder später ging ihm alles einmal durch den Kopf –, dass er zu unabhängig und unverantwortlich lebte, dass er glücklicher wäre, trüge er eine Kette mit einer kleinen goldenen Kugel um den Knöchel. Seine Neugier war in jeder Hinsicht groß, er wollte alles wissen – über das Leben, die Liebe, die Kunst, die Wahrheit –, und seiner Ansicht nach galt es, diese Wissbegierde
so uneingeschränkt wie nur möglich zu befriedigen. Doch im Laufe der Jahre schien diese unbefangene Beschäftigung mit Wissenschaft ein sonderbares Resultat zu zeitigen. Benvolio stellte fest, dass es einen intellektuellen Zustand gab ähnlich dem eines Gaumens, der die Fähigkeit zu genießen verloren hat. Für einen Menschen, dessen Geschmackssinn gestört ist, schmeckt alles gleich, und Benvolio schien das Geschmacksvermögen seines Verstandes allmählich an Empfindlichkeit zu verlieren. Der Verstand kannte noch immer seine genussvollen Momente, seine Festtage und seine Festmahle, doch insgesamt wurde das Schauspiel des menschlichen Lebens fade und schal. Dies ist schlicht eine wortreiche Umschreibung des folgenden entscheidenden Umstands: Benvolio war blasé 3 . Er wusste es, er wusste es beizeiten, und er bedauerte es zutiefst. Er war überzeugt, der Verstand könne sich seine Frische bis zum Schluss bewahren und nur Toren langweilten sich zu Tode. Es gab einen Weg, der Langeweile zu entgehen, und die Pflicht des weisen Mannes war es, ihn ausfindig zu machen. Eine der grundlegenden Erkenntnisse war seiner Meinung nach, dass man seiner selbst schneller überdrüssig wurde als alles anderen auf der Welt. Müßiggang, so räumte jedermann ein, war die
größte aller Torheiten; doch der Müßiggang war heimtückisch und forderte in hundert vertrauenerweckenden Verkleidungen seinen Tribut. Man ging oft müßig, wenn man eifrig beschäftigt schien; man ging immer müßig, wenn das, womit man sich beschäftigte, kein hohes Ziel hatte. Man ging also müßig, wenn man etwas lediglich um seiner selbst willen tat. Neugier um der Neugier willen, Kunst um der Kunst willen, das waren im Wesentlichen kurzatmige Klepper. In Langeweile mündete alles, was nicht dazu beitrug, unsere Beziehungen zum Leben zu mehren. Seine

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