James, Henry
gern einräumen, dass dies an mir und nicht an ihm liegt; ich hätte meine Geschichte dann nicht mit der nötigen Gewandtheit erzählt.
Sein Name war Benvolio; das heißt, eigentlich war das gar nicht sein Name, doch wir werden ihn aus Gründen der Bequemlichkeit wie der Anschaulichkeit so nennen. Er war gerade im Begriff, in das dritte Jahrzehnt unserer irdischen Lebensspanne einzutreten, besaß
ein kleines Vermögen und ging keiner regelmäßigen Beschäftigung nach. Sein Äußeres und sein Auftreten waren in höchstem Maße einnehmend. Nach diesen Ausführungen sollte ich Sie – insbesondere Sie, gnädige Frau – vielleicht lieber in dem Glauben belassen, er entspräche genau Ihrem Ideal männlicher Schönheit; ich sehe mich jedoch genötigt, präzise zu erläutern, worin er einem Märchenprinzen glich, und überdies auf gewisse kleine Eigenheiten und ungewöhnliche Züge hinzuweisen, die in dem strahlenden Bild wahrscheinlich fehlen würden, das Sie sich andernfalls von ihm machten. Benvolio war schlank und blond; er hatte dichte Locken, bemerkenswert schöne Augen und ein so offenes, ausdrucksvolles Lächeln, dass es seinem Besitzer auf dem Weg durchs Leben beinahe ebenso gute Dienste leistete wie ein magischer Schlüssel, ein Zauberring, eine Wunschkappe oder jegliches andere Requisit mit zauberkräftigen Eigenschaften. Bedauerlicherweise stand ihm dieses bezaubernde Lächeln nicht immer zu Gebote, und an seine Stelle trat bisweilen eine äußerst mürrische, finstere Miene, die dem jungen Mann keinerlei Dienst erwies – nicht einmal den, irgendjemanden einzuschüchtern; denn drückte sie auch außerordentliche Verärgerung
und Ungeduld aus, so blitzte doch nur für einen ganz kurzen Moment Verachtung darin auf, und die einzigen Rachegelüste Benvolios, die sie erkennen ließ, schienen darauf gerichtet, widerwärtige Personen oder unangenehme Dinge dadurch zu strafen, dass er sie gar nicht weiter beachtete und sie so schnell wie möglich vergaß. Seine Miene ließ nie jemanden erzittern, auch wenn sich vielleicht dann und wann reizbare Leute veranlasst sahen, die eine oder andere Verwünschung zu murmeln. War Benvolio guter Laune (und das war meist der Fall), hätte man aus seinem Verhalten, aus seinem strahlenden, wachen Blick, aus seinem unverkrampften, unbekümmerten Schritt und vor allem aus dem sanften, klaren, schleppenden, schmeichelnden Ton seiner Stimme – gewissermaßen der Stimme eines Mannes, der sein Vermögen ohne eigene Anstrengung erworben hat und der, ein klein wenig ichbezogen, davon ausgeht, der Rest der Welt könne, in ebensolcher Muße, mit ihm die Annehmlichkeiten des Lebens teilen, die Blumen am Wegesrand pflücken und die Schmetterlinge auf den Wiesen jagen – war Benvolio also guter Laune, hätte man aus dieser schwelgerischen Selbstsicherheit im Auftreten schließen können, unser Held habe
tatsächlich eine Wunschkappe, die unsichtbar auf seiner schönen Stirn saß, oder brauche lediglich seine Fingerknöchel kurz aneinanderzudrücken, um dem Zauberring seine Wirkung zu entlocken. Der junge Mann war, ich sagte es schon, eine Mischung von Ungereimtheiten; noch exakter wäre es zu sagen, er steckte voller Widersprüche. In gewisser Weise besaß er tatsächlich einen Zauberring; mit anderen Worten, er besaß poetische Vorstellungskraft. Alles, was die Phantasie für ihn tun konnte, tat sie in höchster Vollendung. Sie verschaffte ihm unendlich befriedigende Erlebnisse; sie verwandelte die Welt; sie ließ ganz gewöhnliche Gegenstände zuweilen strahlend schön erscheinen und machte schöne zum Quell unsäglichen Entzückens. Benvolio hatte, was man poetische Veranlagung nennt. Es ist ziemlich aus der Mode gekommen, einen Mann mit solchen Begriffen zu beschreiben; aber trotz vieler Beweise für das Gegenteil glaube ich, dass es noch immer Dichter gibt; und wenn wir sonst das Kind stets beim rechten Namen nennen, warum sollten wir dann nicht auch einen Menschen wie Benvolio einen Dichter nennen?
Diese Widersprüche, von denen ich spreche, durchzogen sein ganzes Wesen, sie waren in
seinen Gewohnheiten, seinem Verhalten, seiner Konversation und selbst in seiner Physiognomie deutlich erkennbar. Es war, als hätte man die Seelen zweier von Grund auf verschiedener Männer zusammen in dasselbe Boot gesetzt, damit sie die Reise durchs Leben gemeinsam darin machten, und als wären sie um der Bequemlichkeit willen übereingekommen, sich am Steuerruder abzuwechseln. Das Steuerruder war für
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