James, Henry
mich genommen hatte, begann mir Angst zu machen, und ich sah Mr Tester erst wieder, als er bereits der Gatte von Joscelind Bernardstone war. Sie sind jetzt seit etwa vier Jahren verheiratet; sie haben zwei Kinder, von denen das ältere, ganz wie es sein soll, ein Junge ist. Sir Edmund wartete, bis sein Enkel seinen Platz in der Welt behauptete, dann, als er das Gefühl hatte, es bedenkenlos tun zu können, übergab er ruhig, ja heiter den ihm anvertrauten Besitz. Als er starb, hielt er die Hand seiner Schwiegertochter und drückte sie leicht, was zweifellos eine Aufforderung war, tapfer zu sein. Ich weiß nicht, ob er mit dem Ergebnis zufrieden war, das sein Wunsch, seinen Sohn verheiratet zu sehen, gezeitigt hatte; aber vielleicht merkte er ja gar nicht, dass etwas nicht stimmte, denn Joscelind ist die Letzte, die ihn mit ihrem Kummer behelligt hätte. Ohne Zweifel hatte sie vor ihm jene Verstörtheit erfolgreich verborgen, die ich bereits kurz erwähnt habe. Sie sehen, ich spreche von ihrem Kummer, als wäre er allgemein bekannt; fest steht, dass jedem, der ihr begegnet,
auffallen muss, dass sie wenig Freude am Leben hat. Lady Vandeleur hat, wie Sie wissen, nie mehr geheiratet; sie ist noch immer die schönste Witwe in ganz England. Sie genießt die Wertschätzung aller wie auch den Beifall ihres Gewissens, denn jedermann weiß um das Opfer, das sie gebracht hat, weiß, dass sie in Sir Ambrose noch verliebter war als er in sie. Sie geht natürlich wieder aus wie ehedem, und sie begegnet dem Baronet und seiner Gattin in einem fort. Sie soll zu Lady Tester sogar«sehr nett»sein, und zweifellos behandelt sie sie mit außerordentlicher Höflichkeit. Aber Sie wissen ja (oder vielleicht wissen Sie es auch nicht), welch niederträchtige Dinge – in London – unter dem Deckmantel eines solches Vorgehens geschehen können. Ich will damit natürlich keineswegs sagen, Lady Vandeleur hege irgendwelche niederträchtigen Absichten; sie ist eine sehr redliche Frau, und sicher ist sie in ihrem Innersten überzeugt, sie ließe die arme Joscelind recht gnädig davonkommen. Aber die Folge dieser ganzen Situation ist, dass Joscelind schreckliche Angst vor ihr hat, denn wie könnte es ihr entgehen, dass Lady Vandeleur eine sehr sonderbare Macht über ihren Gatten hat? Man hätte keine bessere Gelegenheit finden können, um die drei zusammen
zu beobachten (wenn man von«zusammen »überhaupt sprechen kann, wo doch Lady Tester so völlig ausgeschlossen bleibt), als diese zwei Tage, die wir in Doubleton verbrachten. In diesem Haus haben sie sich schon mehr als einmal getroffen; ich glaube, sie und Sir Ambrose mögen es. Mit«sie»meine ich, so wie er es zu tun pflegte, Lady Vandeleur. Sie haben gesehen,dass Lady Tester vor Unbehagen ganz weiß war. Was kann sie denn tun, angesichts der allgegenwärtigen stillschweigenden Andeutungen, wenn sich zwei Menschen unserer Tage durch ihre Tugend ausgezeichnet hätten, dann doch wohl ihr Gatte und Lady Vandeleur? Ich habe den Eindruck, dass dieses Paar außerordentlich glücklich ist.
Durch die Heirat hat sich tatsächlich etwas verändert, ich sehe Sir Ambrose nicht mehr so häufig, und unser Umgang ist nicht mehr so vertraut. Aber wenn ich ihn treffe, fällt mir auf, dass er eine Art heiterer Glückseligkeit ausstrahlt. Ja, sie sind zweifellos glücklich, sie gehen wie auf Wolken, sie sind in den siebten Himmel entschwebt, und auf ihren Gesichtern spiegelt sich die Herrlichkeit dieser erhabenen Höhen. Sie ermutigen einander, sie muntern einander auf, sie beflügeln, sie stützen einander; sie erinnern
einander daran, dass sie den besseren Part gewählt haben. Natürlich müssen sie sich zu diesem Zweck treffen, und ich bin sicher, ihre Gespräche sind von dessen Heiligkeit erfüllt. Ambrose Tester trägt den Kopf hoch, wie es einem Mann ansteht, der sich in einer äußerst kritischen Situation wie ein vollendeter Gentleman benommen hat. Nur die arme Joscelind welkt dahin. Jetzt habe ich Ihnen doch erklärt, warum sie es nicht versteht, nicht wahr?
BENVOLIO
I
Es war einmal (als handelte es sich um ein Märchen) ein sehr interessanter junger Mann. Dies ist kein Märchen, und doch war unser junger Mann in mancherlei Hinsicht ein so ansprechender Bursche, dass er es mit jedem Märchenprinzen aufnehmen konnte. Ich bezeichne ihn als interessant, weil sein Charakter von einer Art ist, die zu studieren ich stets für lohnend gehalten habe. Sollten Sie zu einer anderen Ansicht gelangen, will ich
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