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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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Beziehungen zu mehren sollte deshalb, so überlegte Benvolio, des weisen Mannes Ziel sein. Der arme Benvolio musste über diese Dinge nachdenken, denn er war, wie ich schon sagte, ein Dichter und kein Mann der Tat. Ein trefflicher Vertreter dieses Schlages hätte das Problem gelöst, ohne sich dessen bewusst zu sein, er hätte seinen Mitmenschen keine starren Formeln, sondern lebendige Beispiele hinterlassen. Doch Benvolio hatte sich oft gesagt, er sei dazu geboren, sich große Dinge vorzustellen – nicht dazu, sie zu tun; und er hatte dies keineswegs traurig gesagt, denn alles in allem war er mit seinem Los durchaus zufrieden. Vorstellen würde er sie sich, so beschloss er, und das in
wahrhaft großem Stil. Er würde zumindest vermehrte Anstrengungen unternehmen, und sie sollten sehr ernsthaft sein. Er würde große Ideen hervorbringen, er würde große Wahrheiten verkünden, er würde unsterbliche Verse schreiben. Aus alledem sprach eine Menge Talent und ein gerüttelt Maß an Ehrgeiz. Ich will nicht sagen, Benvolio sei ein Genie gewesen, dies könnte die Auszeichnung zu wohlfeil erscheinen lassen; doch er war auf jeden Fall ein Mann mit einer starken intellektuellen Neigung, und wenn Sie in seiner Nähe gewesen wären und Gelegenheit gehabt hätten, ihm wirklich aufmerksam zuzuhören, hätten Sie sicher den Eindruck gewonnen, er gäbe, gleich den Großen seiner Zunft, etwas von jenem undeutlichen magischen Rauschen – der Stimme des Unendlichen – von sich, das in den engen Windungen einer Meeresmuschel verborgen ist. Übrigens hat er selbst einmal diesen eigenwilligen Vergleich gebraucht und ein Gedicht geschrieben, in dem melodiös dargelegt wurde, dass die über die ganze Welt verstreuten poetischen Geister den kleinen Muscheln glichen, die man am Strand aufhebt und in denen das Rauschen des Ozeans widerhallt. Das Ganze wurde natürlich durch die Sandkörner, die das Verstreichen der Zeit messen, durch
das wellenartige Auf und Ab der Geschichte und durch andere wohlklingende Metaphern abgerundet.

II
    Doch Benvolio (und natürlich erwarten Sie das zu hören) wusste sehr wohl, dass es eine Beziehung zum Leben gibt, die ein besseres Gegenmittel gegen die Langeweile ist als alles andere – nämlich die Beziehung zu einer bezaubernden Frau. Selbstverständlich war Benvolio verliebt. Wer war Benvolios Liebste, fragen Sie (wie ich mir schmeichle, mit einiger Ungeduld), und war sie hübsch, war sie liebenswürdig, hatte er Erfolg? Just darum geht es in meiner Geschichte, die ich der Reihe nach erzählen muss.
    Benvolios Liebste war eine Frau, von der wir hier (da ich Ihnen ihren richtigen Namen nicht nennen kann) angemessenerweise als der Gräfin sprechen werden. Die Gräfin war eine junge Witwe, die erst vor einiger Zeit ihre – ohnehin immer nur sehr nonchalant getragene – Trauerkleidung abgelegt hatte. Sie war reich und außerordentlich hübsch, und sie hatte die Freiheit zu tun, was ihr beliebte. Vergnügen und Bewunderung
schätzte sie über alles, und beides strömte ihr unaufhörlich zu. Ihre Schönheit war nicht von der herkömmlichen Art, sondern überstrahlte alles; nur wenige Gesichter waren ausdrucksvoller, faszinierender. Ihres sah nie zwei Tage hintereinander gleich aus; es spiegelte ihre momentane Stimmung mit ungewöhnlicher Lebendigkeit, und kannte man sie, so hatte man das Privileg, auf einen Schlag ein Dutzend verschiedener Frauen zu kennen. Sie war klug und gebildet und stand in dem Ruf, äußerst liebenswürdig zu sein; es war in der Tat schwierig, sich einen Menschen vorzustellen, dem Natur und Schicksal mehr von ihren kostbaren Gaben hatten zuteil werden lassen. Sie verkörperte Glück, Frohsinn und Erfolg; sie war wie geschaffen, um andere zu bezaubern, eine Rolle zu spielen, Einfluss auszuüben. Sie lebte in einem großen Haus hinter hohen, von frischem Grün überwucherten Mauern, wo andere Gräfinnen zu anderen Zeiten eine nicht minder glänzende Rolle gespielt hatten. Es war ein altes Stadtviertel, in das die Flutwelle des Handels in jüngster Zeit mit aller Wucht hineingeschwappt war; doch die schlammige Woge donnerte vergebens gegen das Refugium der Gräfin, und hörte man in ihrem Garten oder Salon den dumpfen Lärm
der Großstadt, so nur als verschwommenes Hintergrundgeräusch zu erfreulicheren Dingen – zu Musik, zu geistreichem Gespräch und zärtlichem Geplauder. Diese kleine Oase des Luxus und der Abgeschiedenheit inmitten von Verkehr und gemeiner Plackerei hatte etwas sehr

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