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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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Benvolio stets die Vorstellungskraft, doch je nachdem, in welcher Stimmung er sich gerade befand, wirkte sie ganz unterschiedlich. Einem aufmerksamen Beobachter hätte allein schon sein Gesicht diese Unterschiede verraten; und es steht außer Zweifel, dass seine jeweilige Kleidung, seine Gesprächsthemen, die Art, wie er seine Zeit an zwei aufeinanderfolgenden Tagen verbrachte, überdeutlich auf sie verwiesen. Bisweilen sah er sehr jung aus – rosig, strahlend, blühend und jünger, als er den Jahren nach tatsächlich war. Dann plötzlich, wenn das Licht in einer bestimmten Weise auf sein Haupt fiel, konnte man sehen, dass erstaunlich viele Silberfäden seine goldenen Locken durchzogen; und war die Aufmerksamkeit erst einmal durch diese Entdeckung geschärft, nahm man in seinem Lächeln etwas Ernstes und Zurückhaltendes wahr – etwas
Vages und Gespenstisches wie die schattenhaften Umrisse der dunkleren Hälfte der Mondscheibe. Man konnte Benvolio, in bestimmten Gemütsverfassungen, nach der neuesten Mode gekleidet antreffen – den Hut ordentlich auf dem Kopf, eine Rose im Knopfloch, ein wunderschönes Intaglio 1 oder eine antike Münze aus Syrakus als Schmucknadel in seiner Halsbinde. Tags darauf dann erspähte man ihn, wie er in einem abgetragenen Gelehrtenrock, den Hut weit in die Stirn gezogen – einer Aufmachung, die so gar nicht zu Blumen und Gemmen passte – der Sonne trotzte. Es war alles eine Frage der Laune; aber seine Laune glich einem Wetterhahn und schaute nach Ost oder West, je nachdem, aus welcher Richtung der Wind gerade wehte. Seine Konversation passte zu seinem Rock und seiner Hose. An einem Tag sprach er über das, worüber die ganze Stadt sprach; er schwatzte, er plauderte, er stellte Fragen und erzählte Geschichten; Sie hätten gesagt, er wäre ein famoser Bursche für eine Dinnergesellschaft oder die Pausen eines Cotillons 2 . Am nächsten sprach er entweder über Philosophie oder Politik, oder er sagte gar nichts; er war geistesabwesend und zeigte an nichts Interesse; er hing seinen eigenen Gedanken nach; er hatte ein Buch in der Tasche, und
offenbar verfasste er auch gerade eines in seinem Kopf. Zu Hause war er in zwei Zimmern. Das erste war ein riesiger Raum, mit Bildern vollgehängt, von Bücherregalen gesäumt, mit Teppichen und Tapeten ausgekleidet und mit einer Menge origineller Einrichtungsgegenstände geschmückt (denn all dies mochte er sehr); das zweite, sein Schlafzimmer, war beinahe so kahl wie eine Mönchszelle. Auf dem Boden lag ein armseliger kleiner Teppichstreifen, und auf dem Kaminsims stand ein Dutzend abgegriffener Bände mit den Werken klassischer Dichter und Weiser. An der Wand hingen drei oder vier grob ausgeführte Porträts der herausragendsten dieser Persönlichkeiten; sie waren der einzige Schmuck. Der Raum bezauberte jedoch durch ein großes Fenster in einer tiefen Nische, das auf einen verwilderten, moosbewachsenen stillen Garten hinausging, und in der Nische stand der kleine, mit Tintenklecksen übersäte Tisch, an dem Benvolio die meisten seiner poetischen Kritzeleien zu Papier brachte. Die Fenster seines luxuriös eingerichteten Wohnzimmers gewährten Ausblick auf einen weiten öffentlichen Platz, auf dem zu jeder Zeit Leute hin und her eilten und verweilten, an Frühlingsabenden Militärmusik erklang und sich das halbe Leben der
großen Stadt abspielte. Auch auf die Gefahr hin, dass Sie unseren Helden für einen schrecklichen Müßiggänger halten werden, will ich nicht verhehlen, dass er, die Ellbogen auf der Fensterbank, übermäßig viel Zeit damit verbrachte, (in beiden Richtungen) aus diesen Fenstern hinauszuschauen. Der Garten gehörte nicht zu dem Haus, in dem er wohnte, sondern zu einem Nachbarhaus, und der Besitzer, ein unleidlicher alter Geizhals, kargte sehr mit Besuchserlaubnissen für sein Reich. Doch in seiner Phantasie wanderte Benvolio oft auf den Pfaden zwischen den Bäumen umher, ohne dabei die langen Äste der vernachlässigten Pflanzen zu berühren, und beugte sich über die Blumen mit ihren schweren Köpfen, ohne einen Fußabdruck in ihren Beeten zu hinterlassen. Hier hatte er die besten Einfälle, überkam ihn still und leise die Inspiration (wie wir sagen dürfen, sprechen wir doch von einem Mann mit poetischer Veranlagung) und schwebte einige spürbare, göttliche Momente lang über ihm, während er seinen kratzenden Federkiel über das Papier führte. Das soll aber nicht heißen, dass er nicht auch einige ganz zauberhafte Stunden

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