James, Henry
war als das Zurückschwingen des Pendels. Eines Tages befand sie, dass er ihr gar zu viel Verdruss bereite, und sie tadelte sich für ihre Gutmütigkeit. Sie hatte sich weggeworfen, ein solches Verhalten war unter ihrer Würde; künftig wollte sie einen anderen Ton anschlagen. Sie verschloss ihre Tür vor ihm und wies ihre Leute an, ihm, wann immer er kam, zu sagen, sie sei beschäftigt. Zunächst wunderte Benvolio sich nur. Seltsamerweise war er nicht, was man gemeinhin zartbesaitet nennt; er kam nie auf den Gedanken, man könnte ihn kränken wollen; selbst nicht impertinent, rechnete er auch nicht mit der Impertinenz anderer. Lediglich wenn er jemanden direkt ertappte, war er zutiefst empört. Deshalb wunderte er sich, wie ich schon sagte, nur darüber, dass die Gräfin auf einmal so beschäftigt war; dann erinnerte er sich an gewisse andere bezaubernde
Menschen, die er kannte, und suchte sie auf, um zu sehen, wie es ihnen in der letzten Zeit ergangen war. Doch diese Menschen leisteten der Gräfin einen enormen Dienst; sie gewann durch den Vergleich mit ihnen, und Benvolio begann, sie zu vermissen. Alles, was die anderen bezaubernden Frauen waren, die (wie man so sagt) das Leben der feinen Welt führten, war die Gräfin auf viel überlegenere, ja vollkommene Weise; sie war die reifste Frucht einer hochentwickelten Kultur; ihre Gefährtinnen und Rivalinnen waren neben ihr lediglich blasse Blüten, hatten einen säuerlichen Geschmack. Benvolio hatte stets nur am Besten Gefallen, und bald fand er sich, leise seufzend, unter den abgedunkelten Fenstern der Gräfin wieder. Er schrieb ihr und fragte sie, warum in aller Welt sie ihn so grausam behandle, und da wusste sie, dass ihr Zauber seine Wirkung tat. Sie hütete sich, seinen Brief zu beantworten, und sorgte dafür, dass er an ihrer Tür so unerbittlich wie zuvor abgewiesen wurde. Aber alles hat sein Gutes, und nachdem Benvolio eines Abends wieder einmal fortgeschickt worden war, wanderte er fast bis zum Morgengrauen durch die mondhellen Straßen und schuf dabei die schönsten Verse, die er jemals hervorgebracht hatte. Gewinn zogen daraus zumindest
die Abonnenten der Zeitschrift, an die er sie schickte. Anders als viele Dichter trug Benvolio indes bei dieser Gelegenheit seine Leidenschaft nicht in seinem Gedicht zu Grabe; und tat er es doch, so trieb sie ihn schon am nächsten Abend wieder um. Erneut begab er sich zum Haus der Gräfin, und erneut wurde er abgewiesen. So kletterte er, nach nur kurzem Zögern, beherzt (und mit einer Gewandtheit, die ihn selbst überraschte) die Mauer zu ihrem Garten hinauf und ließ sich im Mondschein auf ihren Rasen fallen. Ich weiß nicht, ob sie ihn erwartete, aber hätte sie es getan, hätte die Sache nicht besser arrangiert sein können. Sie saß in einer kleinen, von Sträuchern gebildeten Nische, als einzigen Beschützer ein winziges Schoßhündchen an ihrer Seite. Sie gab vor, über Benvolios Kühnheit empört zu sein, doch seine Kühnheit siegte.«Dieses Mal wird er sich mir zweifellos erklären», dachte die Gräfin.«Er ist nicht von der Mauer dort gesprungen und das Risiko eingegangen, sich dabei den Hals zu brechen, bloß um mich um eine Tasse Tee zu bitten.»Doch weit gefehlt; Benvolio war hingebungsvoll, aber er wurde nicht deutlicher als bisher. Er erklärte, dies sei die glücklichste Stunde seines Lebens; seine Lage habe etwas bezaubernd Romantisches; er danke
der Gräfin aufrichtig dafür, dass sie ihn zur Verzweiflung getrieben habe; er käme sie nie mehr anders besuchen als über die Gartenmauer; irgendetwas an diesem Abend – was war es nur? – stehe ihr ungemein gut; er hoffe inständig, sie empfange niemanden sonst; seine Bewunderung für sie sei grenzenlos; und, zu guter Letzt, die Sterne leuchteten so eigenartig rosenrot! Er betrachtete die Gräfin durch die von Blumenduft erfüllte Dunkelheit mit bewunderndem Blick, doch er betrachtete auch die Sterne; er legte den Kopf zurück, verschränkte die Arme und ließ die Unterhaltung stocken, während er das Firmament erforschte. Auch die langen Lichtstrahlen, die aus den Fenstern des Hauses auf den Rasen fielen und Muster ins Strauchwerk zeichneten, studierte er. Die Gräfin hatte ihn schon immer für einen sonderbaren Gesellen gehalten, aber an diesem Abend erschien er ihr noch sonderbarer als sonst. Sie fing an, sich über ihn zu mokieren, und erklärte spöttisch, er sei eben doch nur ein langweiliger Kerl, seine Bewunderung ein dürftiges Kompliment und er
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