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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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kann nicht sagen: gerade in sie verliebte; dafür kannte er sie zu wenig, und außerdem war er ja in die Gräfin verliebt – weil er sich vielmehr ihretwegen das Hirn zermarterte. Wer war sie? Was war sie? Warum hatte er sie bisher noch nie gesehen? Das Haus, in dem sie offenbar wohnte, befand sich nicht in derselben Straße wie das seine, doch er machte absichtlich einen Umweg, um es sich anzusehen. Es war ein düster wirkendes, altes graues Gebäude mit im Erdgeschoss vergitterten Fenstern; es sah aus wie ein Kloster oder ein Gefängnis. Über die angrenzende Mauer wucherten ein paar vereinzelte Ranken einer wildwachsenden Kletterpflanze aus Benvolios Garten auf die Straße. Plötzlich begann Benvolio zu ahnen, dass es sich bei dem Buch, das das junge Mädchen da im Garten las, doch tatsächlich um nichts anderes handelte als um einen von ihm selbst verfassten Band, der etwa sechs Monate zuvor erschienen war. Sein Buch hatte einen weißen Einband, und dieses hier auch; weiße Einbände sind recht selten, und es war weder unmöglich, dass diese junge Dame sein Buch las, noch, dass sie es interessant
fand. Zahlreiche andere Frauen hatten es ebenfalls gelesen und interessant gefunden. Benvolios Nachbarin hatte einen Bleistift in der Tasche, den sie hin und wieder herauszog, um damit auf der Seite, die sie gerade las, etwas anzustreichen. Diese beschauliche Geste bereitete dem jungen Mann außerordentliche Freude.
    Es beschämt mich zu sagen, wie viel Zeit er, eine Woche lang, an seinem Fenster verbrachte. Jeden Tag kam das junge Mädchen in den Garten. Doch dann regnete es eines Tages – ein langer, warmer Sommerregen –, und sie blieb im Haus. Benvolio vermisste sie recht schmerzlich und wunderte sich, halb lächelnd, halb stirnrunzelnd, darüber, dass ihr Ausbleiben ihm derart zusetzte. Er hatte sich doch tatsächlich an sie gewöhnt. Er wusste nicht, wie sie hieß; er kannte weder die Farbe ihrer Augen noch den genauen Farbton ihres Haares, und auch den Klang ihrer Stimme kannte er nicht; begegnete er ihr woanders von Angesicht zu Angesicht, würde er sie sehr wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen. Aber sie interessierte ihn; er mochte sie; er fand ihre nur undeutlich auszumachende schwarz gekleidete kleine Gestalt sympathisch. Er pflegte auch die Gräfin sympathisch zu finden, und die Gräfin war fraglos so ganz anders
als diese stille Gartennymphe, dennoch war sie eine bezaubernde Frau. Benvolios Sympathien waren, wie wir wissen, breit gefächert. Nach dem Regen kam das junge Mädchen wieder heraus, und jetzt hatte sie ein anderes Buch bei sich: Benvolios hatte sie offenbar ausgelesen. Erfreut nahm er zur Kenntnis, dass ihre Gedanken bei dieser Lektüre weitaus öfter abschweifte. Zuweilen ließ sie das Buch lustlos neben sich fallen und schien sich in unschuldigen Träumereien zu verlieren. Dachte sie darüber nach, wie viel schöner Benvolios Verse waren als die anderer Zeitgenossen? Wiederholte sie sie vielleicht gerade leise für sich? Die Vorstellung, sie könnte es tun, entzückte Benvolio, war er doch in dieser Hinsicht nicht verwöhnt. Die Gräfin konnte keines seiner Gedichte auswendig; sie war keine große Leserin. Sein Buch lag zwar auf ihrem Tisch, doch war ihm einmal aufgefallen, dass die Hälfte der Seiten gar nicht aufgeschnitten war. 8
    Nach ein paar sonnigen Tagen kehrte, zum unendlichen Verdruss unseres Helden, der Regen zurück, und diesmal regnete es mehrere Tage lang. Triefend und trostlos lag der Garten da; sein Zauber war ganz und gar verflogen. Diese Tage verbrachte Benvolio in gedrückter Stimmung; er kam zu dem Schluss, Regenwetter im
Sommer sei in der Stadt unerträglich. Er begann wieder an die Gräfin zu denken – er war überzeugt, dass über ihren weiten Ländereien die Sommersonne schien. Neidvoll sah er in seiner Phantasie die Landschaft von fröhlichen Watteau-Gruppen 9 bevölkert, die im Schatten altehrwürdiger Buchen Festmahle abhielten und musizierten.«Welch betörendes Leben!», dachte er –«welch strahlende, zauberhafte, denkwürdige Tage!»Drei Wochen zuvor hatte er, wie Sie sich erinnern werden, noch das genaue Gegenteil von alldem behauptet. Ich wüsste nicht, dass er die Ansicht, phantasievolle Menschen brauchten nicht konsequent zu sein, je zu seiner Maxime erhoben hätte, doch zweifellos handelte er in diesem Geiste. Wir sind indes noch keineswegs beim Ende seiner Wankelmütigkeit angelangt. Er schrieb der Gräfin unverzüglich einen Brief, in dem er sie

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