James, Henry
verabschiedete sich unvermittelt und kühl und zermarterte sich noch lange das Hirn auf der Suche nach einer Erklärung für Scholasticas Reserviertheit.
Die Gräfin hatte behauptet, Reisen sei ein Prüfstein für eine Freundschaft; und in diesem Fall versprach die Freundschaft (oder welchen Namen man der Leidenschaft auch geben will) die Prüfung eine Zeitlang zu bestehen. Benvolio verlebte sechs Monate größter Glückseligkeit. Die Welt hat einem Mann von feinem Empfinden nichts Besseres zu bieten als einen ersten Italienbesuch in jenen Lebensjahren, da die Wahrnehmung am schärfsten, Wissen und Erfahrung erworben und dennoch die Jugend noch nicht entschwunden ist. Gemächlich durchreiste er zusammen mit der Gräfin das liebliche Land von den Alpen bis zum sizilianischen Meer, und ihm war, als frohlockten seine Phantasie, sein Verstand, seine schöpferische Kraft bei jedem Blick, als entfalteten sie sich mit jedem Atemzug
mehr. Die Gräfin war beinahe ebenso entzückt, und ihrer beider Interessen und Empfindungen befanden sich in vollkommenem Einklang, sah man einmal von der etwas wahllosen Vorliebe der Dame für Gesellschaften und Empfänge ab. Sie hatte tausend Empfehlungsschreiben abzugeben, was eine Unzahl gesellschaftlicher Verpflichtungen mit sich brachte. Oft zerrte sie, in milden Nächten, wenn er lieber zwischen den Ruinen des Forums seinen Gedanken nachgehangen oder den im Mondschein leise plätschernden Wellen der Adria gelauscht hätte, Benvolio mit sich fort, damit er irgendeiner verwelkten Prinzessin die Hand küsse oder eine Prise aus der Schnupftabakdose eines den materiellen Freuden des Daseins nicht abgeneigten Kardinals nehme. Doch die Kardinäle, die Prinzessinnen, die Ruinen, die warmen südlichen Wasser, die die Stimme der Geschichte selbst zu sein schienen – diese und tausend andere Dinge verschmolzen zu einem gewaltigen pittoresken Spektakel, verwandelten sich just in den Stoff, aus dem die Inspiration besteht. Alles, was Benvolio geschrieben hatte, bevor er nach Italien gekommen war, erschien ihm nun wertlos; der Aufenthalt hier drückte dem Talent erst den notwendigen Stempel auf, verlieh ihm
seine Weihe. Eines Tages wurde seine Glückseligkeit jedoch getrübt – durch eine Kleinigkeit, werden Sie möglicherweise sagen; doch Sie müssen bedenken, dass es bei Männern von Benvolios Schlag fast immer kleine Vorfälle sind, die grundlegende Entscheidungen auslösen. Die Gräfin, die über den Klang von irgendjemandes Stimme sprach, den sie kennengelernt hatten, erwähnte beiläufig, er erinnere sie an die Stimme jener absonderlichen jungen Frau zu Hause – der Tochter des blinden Professors. War dies bloße Unachtsamkeit, oder geschah es in böser Absicht? Benvolio erfuhr es nie, obwohl er sie sogleich überrascht danach fragte, wann und wo sie denn Scholasticas Stimme gehört habe. Seine ganze Aufmerksamkeit war geweckt; die Gräfin bemerkte es und zögerte einen Moment. Dann antwortete sie unerschrocken, sie habe das junge Mädchen in dem mit Büchern vollgestopften muffigen alten Zimmer besucht, in dem sie ihr trübseliges Leben verbringe. Bei diesen in überaus spöttischem Ton geäußerten Worten beschlich Benvolio ein ganz eigenartiges Gefühl. Er spazierte mit der Gräfin gerade durch den Garten eines Palastes, und sie waren eben an die niedere Balustrade einer Terrasse getreten, von der aus man einen herrlichen Blick hatte. Auf
der einen Seite erhob sich der violette Apennin, an dessen Hängen hier und da eine Burg oder ein Kloster schimmerte; auf der anderen stand der prachtvolle Palast, durch dessen Galerien die beiden gerade geschlendert und dessen Kranzgesims mit Statuen und dessen Mauern mit Medaillons reich verziert waren. Doch Benvolios Herz begann heftig zu schlagen; Tränen traten ihm in die Augen; die grandiose Landschaft um ihn herum verblasste und löste sich in Nichts auf, und er sah klar und deutlich den düsteren alten Raum vor sich, der auf den stillen nördlichen Garten hinausging und die beiden schweigsamen Gestalten beherbergte, von denen er einmal zu sich selbst gesagt hatte, dass er sie liebe. Er hatte das Gefühl zu ersticken und verspürte plötzlich ein übermächtiges Verlangen, in sein Heimatland zurückzukehren.
Die Gräfin wollte nicht mehr sagen, als dass eine Laune sie eines Tages veranlasst habe, Scholastica aufzusuchen.«Ich darf doch wohl gehen, wohin ich will!», rief sie im Ton der großen Dame, die glaubt, ihr Blick müsse als Ehre empfunden
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