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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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Wertschätzung Benvolio sich darüber äußerte, begannen ihre Wangen zu glühen und ihre Lebensgeister wieder zu erwachen. Um die Gegenwart muss ich mir also keine Gedanken machen, schien sie sich zu sagen; sie würde so manchen Monat beschäftigt sein. Benvolio erbot sich, ihr zu helfen, soweit es in seiner Macht stand, und suchte sie infolgedessen täglich auf. Scholastica lebte so weltabgeschieden, dass sie sich nicht um vulgären Klatsch zu kümmern brauchte. Welch spöttische Bemerkungen auch immer über den jungen Mann wegen dessen unübersehbarer Hingabe an ein geheimnisvolles betörendes Wesen in Umlauf waren – er konnte ganz sicher sein, dass ihr Ohr nie durch boshafte Anspielungen beleidigt würde. Die alte Dienstmagd saß, über ihrem Spinnrocken 16 eingenickt, in einer Ecke, und die beiden Freunde führten, über vergilbte
Manuskripte gebeugt, lange Gespräche, in denen es zugegebenermaßen nicht immer um Dinge ging, die unmittelbar mit den Texten zu tun hatten. Sechs Monate verstrichen, und Benvolio fand diese erquickliche Mischung aus Gefühl und Studium unbeschreiblich reizvoll. Noch nie in seinem Leben war er so lange ein und derselben Meinung gewesen, ja es schien, als hätte er, wie man so sagt, endlich seinen Platz gefunden – als hätte er mit der Welt abgeschlossen und wäre bereit, künftig im stillen Kämmerlein zu leben. Er dachte kaum mehr an die Gräfin, und sie korrespondierten auch nicht miteinander. Sie hielt sich in Italien, in Griechenland, im Orient, im Heiligen Land auf und kam an Orte und in Situationen, die die Phantasie herausforderten.
    Eines Tages wurde er, nachdem er sich von Scholastica verabschiedet hatte, in der Düsterkeit des Vorraums von einem kleinen, schäbig aussehenden alten Mann aufgehalten, von dem er kaum mehr erkennen konnte als ein Paar stechend blickender Augen und einen riesigen kahlen Schädel, der wie eine polierte Elfenbeinkugel glänzte. Er war auf seine Art eine recht furchterregende Gestalt, und Benvolio erschrak im ersten Moment.«Herr Dichter», sagte der alte Mann,«auf ein Wort. Ich sorge dafür, dass meine
Nichte ein Auskommen hat. Sie kann tun und lassen, was sie will. Aber sie wird jeden Penny ihrer Zuwendung und des Erbes verlieren, das sie zu erwarten hat, sollte sie töricht genug sein, einen Kerl zu heiraten, der Reime kritzelt. Mir ist gesagt worden, diese Leute brauchen manchmal eine Stunde, bis sie zwei finden, die zusammenpassen! Guten Abend, Herr Dichter!»Benvolio hörte ein Geräusch, das wie das leise Klimpern loser Münzen in einer Hosentasche klang, als sich der alte Mann abrupt in seine häusliche Trübseligkeit zurückzog. Benvolio hatte ihn zuvor noch nie gesehen, und er verspürte nicht den geringsten Wunsch, ihm jemals wieder zu begegnen. Er hatte nicht vorgehabt, Scholastica zu heiraten; aber selbst wenn er es vorgehabt hätte, da bin ich mir recht sicher, hätte er nun die Sache geziemend abgewogen und wäre zu dem Schluss gelangt, dass sein Herz und seine Hand nur ein unzulänglicher Ausgleich für den Verzicht auf das Vermögen eines Geizhalses wären. Das junge Mädchen sprach nie von ihrem Onkel; er lebte offenbar ganz allein, geisterte wie ein ruheloses Gespenst durch seine Räumlichkeiten im Obergeschoss und ließ ihr, eingeschlagen in ein Stück altes Zeitungspapier, ihre dürftige monatliche Zuwendung durch die alte Dienstmagd zukommen.
Kurze Zeit nach diesem Vorfall kehrte die Gräfin endlich zurück. Benvolio hatte einen jener langen Spaziergänge unternommen, für die er schon immer eine Vorliebe gehabt hatte, und als er auf dem Heimweg durch die öffentlichen Gartenanlagen kam, hatte er sich auf eine Bank gesetzt, um auszuruhen. Wenige Augenblicke später rollte eine Kutsche vorbei; darin saß die Gräfin – schön, melancholisch, allein. Er erhob sich zu einem förmlichen Gruß, aber sie fuhr weiter ihres Weges. Doch schon nach fünf Minuten kam sie wieder zurück, und diesmal hielt ihre Kutsche an. Die Gräfin warf ihm einen einzigen Blick zu, und er stieg ein. Danach wartete Scholastica eine Woche lang vergebens auf ihn. Was war geschehen? Geschehen war, dass die Gräfin erneut ihren Charme hatte spielen lassen und unser feiner Held ihm erneut erlegen war, obwohl sie sich als so hinterhältig und grausam erwiesen hatte. Nach einer Zeit der Vernachlässigung, die indes nicht so lange gedauert hatte, dass sie unentschuldbar gewesen wäre, nahm er seine Besuche bei Scholastica wieder auf; der einzige Unterschied

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