James, Henry
das nicht recht zu ihrer Distanziertheit zu passen schien. Ich betrachtete sie einen Augenblick und sagte dann:«Dieser jungen Dame würde ich sie gern zeigen.»
« O ja», sagte Mrs Latouche,«sie ist genau die Richtige. Ihr liegt nichts am Flirten; ich werde mit ihr sprechen.»
Ich erwiderte noch, wenn ihr am Flirten nichts liege, sei sie vielleicht doch nicht ganz die Richtige, aber Mrs Latouche war bereits auf dem Weg zu ihr.
« Sie ist entzückt», sagte sie, als sie zurückkam.« Sie ist genau die Richtige, so ruhig und so intelligent. »Und dann erklärte sie, die junge Dame heiße Miss Caroline Spencer, und stellte mich ihr vor.
Miss Caroline Spencer war nicht unbedingt eine Schönheit, aber sie war ein reizendes Persönchen. Sie muss damals schon an die dreißig gewesen sein, doch war sie beinahe wie ein kleines Mädchen gebaut und hatte den Teint eines Kindes. Sie hatte einen sehr hübschen Kopf, und ihre Frisur war so genau wie möglich der einer griechischen Büste nachempfunden, auch wenn freilich bezweifelt werden musste, dass sie jemals eine griechische Büste gesehen hatte. Ich vermutete, sie sei«kunstsinnig», soweit Grimwinter solche Neigungen zuließ. Sie hatte sanfte Augen, die erstaunt dreinblickten, schmale Lippen und sehr schöne Zähne. Um den Hals trug sie, was die Damen meines Wissens einen«Rüschenkragen
»nennen, der von einer sehr kleinen rosafarbenen Korallenbrosche zusammengehalten wurde, und in der Hand hielt sie einen aus Stroh geflochtenen und mit rosafarbenem Band verzierten Fächer. Sie trug ein schlichtes schwarzes Seidenkleid. Sie sprach mit einer Art sanfter Deutlichkeit, ließ dabei ihre weißen Zähne zwischen den schmalen, zarten Lippen sehen und schien außerordentlich erfreut, ja sogar ein wenig aufgeregt angesichts meiner bevorstehenden Demonstration. Dieser stand nichts mehr im Wege, nachdem ich die Mappen aus ihrer Ecke geholt und zwei Stühle in die Nähe einer Lampe gerückt hatte. Die Photographien zeigten meist mir Bekanntes – Großaufnahmen aus der Schweiz, Italien und Spanien, Landschaften, berühmte Gebäude, Gemälde und Statuen. Ich erzählte, was ich darüber wusste, während meine Gefährtin, den Strohfächer an die Unterlippe gelegt, vollkommen reglos dasaß und die Bilder betrachtete, die ich hochhielt. Zuweilen fragte sie, wenn ich eines zur Seite legte, sehr leise:«Haben Sie diesen Ort besucht?»Meist erwiderte ich, ich hätte ihn sogar mehrmals besucht (ich reiste damals viel), und hatte dann das Gefühl, dass sie mich einen Augenblick lang prüfend mit ihren hübschen Augen ansah.
Ich hatte sie gleich zu Beginn gefragt, ob sie je in Europa gewesen sei, worauf sie mit einem in verschwörerischem Flüsterton abgehackt hervorgestoßenen« Nein, nein, nein»antwortete. Danach sagte sie jedoch kaum noch etwas, so dass ich, auch wenn sie den Blick kein einziges Mal von den Bildern abwandte, befürchtete, sie langweile sich. Deshalb bot ich an, als wir mit der ersten Mappe fertig waren, die Sache zu beenden, wenn sie es wünschte. Ich spürte, dass sie sich nicht langweilte, doch ihre Schweigsamkeit verwirrte mich, und ich wollte sie zum Sprechen bewegen. Ich wandte mich ihr zu und sah, dass ihre Wangen leicht gerötet waren. Sie fächelte sich mit ihrem kleinen Fächer Luft zu. Anstatt mich anzublicken, starrte sie auf die andere Mappe, die gegen den Tisch gelehnt war.
« Wollen Sie mir die nicht mehr zeigen?», fragte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme. Fast hätte man glauben können, sie sei aufgeregt.
« Aber gern», antwortete ich,«wenn Sie nicht müde sind.»
« Nein, ich bin nicht müde», versicherte sie.« Es gefällt mir – es gefällt mir sehr gut.»
Und als ich die andere Mappe hochhob, legte sie ihre Hand auf sie und fuhr sanft darüber.
« Waren Sie hier auch schon?», fragte sie.
Als ich die Mappe öffnete, stellte sich heraus, dass ich tatsächlich dort gewesen war. Eine der ersten Photographien war eine Großaufnahme des Schlosses von Chillon am Genfer See.
« Hier war ich viele Male», sagte ich.«Ist es nicht schön?»Und ich deutete auf die vollkommene Spiegelung der schroffen Felsen und markanten Türme in dem stillen, klaren Wasser. Sie sagte nicht:«Wie bezaubernd!»und schob das Bild weg, um sich das nächste anzusehen, sondern betrachtete es eine Weile und fragte dann, ob dort nicht Bonivard eingekerkert gewesen sei, über den Byron geschrieben hatte. 2 Ich bestätigte dies und versuchte, ein paar von
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