Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
schieben.«
Er schwieg, überlegte eine Weile und fuhr dann fort:
»Du bist dir wohl über eins im Klaren: Das heißt noch lange nicht, dass der Junge keinen Mord begangen hat. Es könnte bedeuten, dass er es unter Drogeneinf luss getan hat.«
»Richtig. Aber es sagt etwas über Zurechnungsfähigkeit aus. Sie haben ihn abgerichtet, Milo. Sie haben ihn mit allergrößter Sorgfalt ganz allmählich in den Wahnsinn getrieben, so lange, bis er in eine geschlossene Anstalt musste. Dort haben sie ihm munter weiter Gift verabreicht. Die Cadmus-Familie fand einen Doktor, der für Geld alles tat, sogar seine eigenen Vorschriften durchbrach und eine Privatpflegerin einstellte. Ich wette zehn zu eins, dass Frau Brown ihm seine tägliche Dosis verpasste, unter Mainwarings Aufsicht.«
»Brown«, murmelte Milo und schrieb in sein Notizbuch. »Wie heißt sie mit Vornamen?«
»Marthe. Wenn das ihr wahrer Name ist. Sie ist in keinem Berufsregister zu finden. Nach Jameys Ausbruch aus der Klinik verschwand sie. Genau wie die Vann, die nur ganz zufällig nicht an ihrem Platz saß, als Jamey weglief. Sie haben ihm dabei geholfen, dann brachten sie ihn in Chancellors Villa und …«
»Und?«
»Ich weiß es nicht.« Im Klartext: Ich möchte es nicht wissen.
Milo steckte sein Notizbuch ein und sagte, er werde die Spur der beiden Schwestern verfolgen. »Kann ja sein, dass wir Glück haben.«
»Vielleicht«, sagte ich verdrießlich.
»Jetzt überanstreng bloß deine Mitleidsdrüsen nicht!«, sagte er unwirsch, fragte aber dann freundlich: »Was ist denn los, denkst du immer noch über Schuld und Unschuld nach?«
»Du etwa nicht?«
»Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, lasse ich’s. Stört mich zu sehr bei der Arbeit.« Er lächelte. »Das bedeutet natürlich nicht, dass zivilisierte Menschen wie du es nicht tun sollten.«
Ich stand auf und presste meine Handflächen gegen die grün gestrichenen Wände des Verhörzimmers. »Ich hatte gehofft, etwas zu finden, das klar und deutlich seine Unschuld beweist und plausibel macht, dass er niemanden getötet hat.«
»Alex, wenn sich herausstellt, dass er unter dem Einfluss von Drogen gehandelt hat, wird er nie ein Gefängnis von innen sehen.«
»Das ist etwas anderes als Unschuld.«
»Aber so etwas Ähnliches. Es gibt die Möglichkeit, auf unbewusstes Handeln zu plädieren, das macht man bei Leuten, die während ihrer Tat nicht bei vollem Bewusstsein waren: Schlafwandler, Epileptiker, Leute mit Hirnschäden, Leute unter Drogeneinfluss. Das wird nur sehr selten ins Spiel gebracht, weil es noch schwerer nachzuweisen ist als Unzurechnungsfähigkeit. Verbrechen ohne klares Bewusstsein kommen nur verdammt selten vor. Ich kenne einen solchen Fall, der vor ein paar Jahren passierte. Ich nahm einen alten Mann fest, der seine Frau erwürgt hatte. Er tat es sozusagen im Schlaf. Die Ärzte hatten seine Medikamente abgesetzt, sodass er völlig wirr im Kopf war. Die Sache lief ganz glatt, alles konnte genau nachgewiesen werden mit richtigen medizinischen Fakten, nicht mit irgendwelchem Psychokram. Es leuchtete allen ein, sogar dem Staatsanwalt. Es kam erst gar nicht zur Verhandlung. Er kam frei, ohne Makel. Souza wird es sicher auch in dieser Richtung versuchen.«
»Wo wir gerade von Souza sprechen«, sagte ich, »wir müssen auf eines achten: Er hat der Familie Mainwaring besorgt. Und Brown ebenfalls. Vielleicht hängt er auch in der Sache drin.«
»Warum hätte er dich dann als Experten in seine Dienste genommen?«
Darauf wusste ich keine Antwort.
»Alex, mir gefallen unsere Überlegungen recht gut, aber das heißt noch lange nicht, dass wir genau wüssten, was tatsächlich passiert ist. Es sind noch tausend Fragen offen. Wie zum Beispiel ist das Tagebuch von Chancellor zu Yamaguchi gelangt? Woher wusste Radovic, wo er es finden kann? Warum folgte er dir auf Schritt und Tritt? Wer sind der Dicke und der Dünne? Und was ist mit all den anderen Opfern des Lavendelmörders? Ich wüsste noch eine Menge anderer Fragen, wenn du mir etwas Zeit lässt. Aber ich kann es mir nicht leisten, hier herumzusitzen und zu spekulieren. So ganz allmählich muss ich auch Whitehead und die anderen in die Sache einbeziehen. Bevor ich das aber mache, brauche ich ein paar solidere Fakten als alte Bücher.«
»Und das wäre?«
»Ein Geständnis.«
»Und wie willst du so weit kommen?«
»Auf die übliche, ehrliche Art, durch Einschüchterung.«
27
Der Sturm tobte immer noch, peitschte gegen die Küste und
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