Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
Schizophrenie sind das, was ein Laie als Verrücktheit bezeichnet: Wahrnehmungstäuschung, Halluzinationen, ungeordnetes Denken, Wirklichkeitsverlust, wirres Reden und eigentümliches Benehmen. In allen Gesellschaftsformen kommt sie vor, etwa bei einem Prozent der Bevölkerung, aber über ihre Ursachen weiß man nichts. Man hat versucht, es zu erklären mit einem Geburtstrauma, Hirnschäden, einer bestimmten körperlichen Beschaffenheit, Mangelernährung im Säuglingsalter. Man hat nichts von dem wirklich beweisen können, aber einiges widerlegt. Manches deutet darauf hin, dass es eine, wie Souza es so fröhlich nannte, Veranlagung ist, mit der man geboren wurde. Der Verlauf der Krankheit ist so unvorhersehbar wie Feuer in einem Wirbelsturm. Manche Patienten erleben nur einen schizophrenen Anfall und sind danach für immer geheilt. Andere erleiden mehrere Schübe, und danach ist es vorbei. Bei vielen dauert der Zustand an, ohne dass er sich sehr verschlechtert, aber in den meisten schweren Fällen verfallen die Patienten immer mehr.
Was den Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Mordlust angeht, so kann man klare Aussagen machen. Die meisten dieser Kranken sind ausgesprochen harmlos, weniger gewalttätig als die Gesunden. Einige wenige jedoch sind ausgesprochen gefährlich. Sie haben plötzliche Zornausbrüche, und ihre Opfer sind zumeist die, welche sie pflegen und sich liebevoll um sie kümmern, Eltern, Ehepartner, Schwestern und Ärzte.
Schizophrene morden jedoch niemals serienweise. Der Sadismus, die genaue Planung und der Wiederholungszwang im Fall des Lavendelmörders gingen zweifellos auf eine andere Ausgeburt der Hölle seelischer Krankheiten zurück.
Menschen mit dieser Krankheit sehen nicht wie Monster aus. Wenn man ihnen auf der Straße begegnet, erscheinen sie ganz normal, sie können sogar sehr freundlich sein. Der Lavendelmörder streifte durch die Stadt, ein kaltblütiges Ungeheuer, unter dem Deckmantel der Zivilisiertheit hielt er kühl Ausschau nach Opfern. Er kannte nicht den Unterschied zwischen Menschen und Monstern. Er lebte nach der Devise »Füge dem andern zu, was du willst«. Er nutzte das Leben für seine Zwecke aus, kannte kein Mitgefühl und hatte kein Gewissen. Die Schreie seiner Opfer ließen ihn im besten Falle gleichgültig, im schlimmsten erfreute er sich daran.
Solche Psychopathen durchschaut die Psychiatrie noch weniger als die Schizophrenen. Die Auswüchse der Krankheit können häufig durch Medikamente im Zaum gehalten werden, aber eine echte Heilung des Bösen gibt es nicht.
Was war Jamey, ein Verrückter oder ein Ungeheuer?
Sonnenschein hatte mit einem für Polizisten nicht ungewöhnlichen Zynismus das Letztere vermutet. Ich wusste, dass er aus Erfahrung gesprochen hatte, denn das Erste, was Mörder nach ihrer Verhaftung versuchen, ist, den Wahnsinnigen zu spielen. Das wusste man von prominenten Beispielen: dem Yorkshire-Ripper, Manson, Bianchi, dem Son of Sam. Keiner von ihnen war damit durchgekommen, aber zunächst hatten sie alle mehrere Experten an der Nase herumgeführt.
Ich hatte im Lauf der Jahre eine ganze Reihe kleiner Gewalttäter untersucht, Kinder ohne jedes Gefühl, die Schwächere prügelten, Feuer legten und Tiere quälten - alles ohne den geringsten Anflug von Mitleid oder Gewissensbissen. Sieben-, acht- und neunjährige Kinder, die schlichtweg Furcht erregend waren. Jamey passte in diese Kategorie nicht hinein; ganz im Gegenteil, er war einfühlsam, sensibel, in sich gekehrt, mehr, als für ihn gut sein konnte. Aber wie genau hatte ich ihn gekannt? Sein Zustand im Gefängnis schien alles andere als gespielt, aber war ich souverän genug, nicht Opfer einer List zu werden?
Ich wollte Souza nur zu gerne glauben, wollte sicher sein, dass ich auf der Seite der Guten war. Aber in dieser Frage konnte ich mich auf nichts verlassen als auf Wunschdenken und die Geschichte der Familie Cadmus, so wie Souza sie mir erzählt hatte - und die möglicherweise nicht der Wahrheit entsprach.
Es war Zeit, dass ich mich an die Arbeit machte. Ich musste die Vergangenheit ans Licht holen, anstatt die Gegenwart auszuleuchten, musste den Geist von Jamey untersuchen, den Verfall eines jungen Genies.
Die Gespräche mit Mainwaring und den Cadmus lagen schon Tage zurück. Die psychologische Fakultät lag nur wenige Minuten entfernt im naturwissenschaftlichen Komplex.
Ich ging zu einer Telefonzelle, rief im Fachbereich Psychologie an und ließ mich mit Sarita Flowers verbinden.
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