Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
und ließ ihre hellen Augen durch das Büro gleiten.
»Minimalistische Einrichtung«, sagte sie lächelnd. »Ich komm an alles leicht ran und bleibe seelisch gesund. Seit ich hier arbeite, habe ich gewisse Neigungen zur Klaustrophobie. Ich fühle mich etwas eingeengt. So aber kann ich meine Tür zumachen und trotzdem hin und her fahren.«
Sie lachte warmherzig. Dann sah sie mich an, lächelte und sagte:
»Alter Junge, die Zeit war gnädig mit dir.«
»Mit dir auch«, antwortete ich spontan, kam mir aber gleich darauf vor wie ein Idiot.
Zum letzten Mal waren wir uns auf einem Kongress begegnet, vor drei Jahren. Sie hatte gerade wieder einen Schub von Multipler Sklerose erlitten und sich eben erst davon erholt. Sie war geschwächt, konnte aber am Stock laufen. Ich fragte mich, wie lange sie wohl schon im Rollstuhl saß. Nach dem Aussehen ihrer Beine zu urteilen, war sie schon lange nicht mehr zu Fuß gegangen.
Sie bemerkte meine Verlegenheit, zeigte auf ihre Knie und lachte erneut.
»Abgesehen von den Dingern bin ich immer noch beste Ware, findest du nicht?«
Ich schaute sie an. Sie war vierzig, aber ihr Gesicht wirkte zehn Jahre jünger. Sie sah amerikanisch aus, ihr Gesichtsausdruck war offen und freundlich, ihre Haut von der Sonne gebräunt und sommersprossig, ihr dickes blondes Haar trug sie als Pagenkopf.
»Unbedingt Spitzenqualität«, antwortete ich.
»Lüg nicht so«, antwortete sie lachend. »Wenn ich mich demnächst wieder deprimiert fühle, dann rufe ich dich an, damit du die Wirklichkeit rosa malst.«
Ich musste lächeln.
»Also«, sagte sie schließlich ernst, »dann lass uns mal über Jamey reden. Was wolltest du gerne wissen?«
»Wann hat er angefangen, krank zu werden?«
»Ungefähr vor einem Jahr.«
»Kam das plötzlich oder eher schleichend?«
»Schritt für Schritt, so richtig heimtückisch. Du kennst ihn ja, Alex. Du weißt, was für ein seltsames Kind er ist. Abhängig von Stimmungen, feindselig, verschlossen. Sein IQ ist immens hoch, aber er weigert sich, irgendetwas daraus zu machen. Alle anderen aus seiner Gruppe haben sich auf ihre Ausbildung nur so gestürzt. Sie erbringen fantastische Leistungen. Alles, was Jamey angefangen hatte, gab er nach kurzer Zeit wieder auf. Es gehörte, wie du weißt, bei dem Projekt zu den Abmachungen, dass man keine Arbeit unterbrechen oder einfach fallen lassen darf. Ich hätte ihn deshalb rauswerfen können, tat es aber nicht, weil ich Mitleid mit ihm hatte. Dieser traurige Junge ohne Eltern! Ich hoffte, er würde es irgendwann packen. Das Einzige, was ihn wirklich zu interessieren schien, waren Gedichte. Er schrieb nicht selbst welche, aber er las und las. Er war so besessen, dass ich dachte, er würde etwas Kreatives damit anfangen. Aber nichts dergleichen geschah. Eines Tages gab er die Poesie auf, eiskalt. Sein ganzes Interesse galt von da an dem Wirtschafts- und Geschäftsleben. Er las das Wall Street Journal und jede Menge finanzwissenschaftlicher Texte.«
»Wann war das?«
Sie dachte einen Augenblick nach.
»Ich würde sagen, so vor vierzehn Monaten etwa. Das war übrigens nicht die einzige Änderung, die mit ihm geschah. Seit ich ihn kannte, hatte er immer nur Fast Food gegessen. Alle redeten davon, dass Jamey nichts lieber aß als riesige Hamburger mit dickem Ketchup drüber. Und plötzlich wollte er nichts anderes mehr als Sojakeime, Tofu, Körner, frisch gepressten Saft.«
»Hast du eine Ahnung, wie es dazu kam?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe ihn natürlich nach dem Grund gefragt, vor allem in Bezug auf sein Interesse für Wirtschaftsfragen. Ich hatte den Eindruck, er würde jetzt doch etwas Ernsthaftes tun. Seine einzige Antwort war ein Blick, der sagte: Lass mich gefälligst in Ruhe, dann ging er fort. Monate später hatte er sich immer noch nicht in einem Studiengang eingeschrieben, er ging zu keinen Veranstaltungen, sondern vergrub sich in der Bibliothek der Wirtschaftswissenschaften. Ich beschloss, ihn aus dem Projekt zu werfen, aber bevor ich es ihm sagen konnte, änderte sich sein Verhalten gravierend, es war äußerst seltsam. Zunächst war es dasselbe wie früher, nur in verstärkter Form. Noch launischer war er, noch depressiver und so sehr in sich gekehrt, dass er mit niemandem mehr sprach. Dann folgten Angstzustände: Sein Gesicht lief rot an, sein Mund war ganz trocken, er hatte Atemnot, Schwindelanfälle. Zweimal verlor er das Bewusstsein.«
»Wie oft hatte er solche Anfälle?«
»Ungefähr sechs während
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