Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
Frau am Arm, zu der er sehr galant war. Eines Tages erschien er plötzlich mit wasserstoffblonden, gelockten Haaren, trug Wimperntusche und eine Robe wie ein römischer Diktator. Anstatt einer Frau begleitete ihn eine Schar gackernder, aufgemachter Jünglinge, wie auf einem Foto von Maxfield Parrish. Er begrüßte mich herzlich wie immer und wollte mir die Hand geben, als wenn nichts geschehen wäre. Widerlich.«
Er rührte mit gerunzelter Stirn seinen Tee um.
»Verstehen Sie mich bitte recht, ich habe nichts gegen Homosexuelle, obwohl sie meiner Meinung nach nicht normal sind. Sie sollten sich jedoch zurückhalten und sich um ihre eigenen Sachen kümmern. Dig Chancellor hielt sich nicht an die Regeln. Er machte keinen Hehl aus seiner Abartigkeit und verführte Unschuldige, ein gottverdammter Lüstling.«
Er war wieder rot angelaufen und schien erregt, ich hatte dieses Mal für ihn Verständnis.
»Das passt vorzüglich in Ihre Verteidigungsstrategie«, sagte ich.
Er rührte schneller in seinem Tee und sah mich durchdringend an. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, lag ich mit meiner Einschätzung voll auf seiner Linie.
»Wie bitte?«
»Sie erwähnten vorhin die Unvereinbarkeit zwischen einem Plädoyer auf Unzurechnungsfähigkeit einerseits und der planvollen Ausführung der Morde andererseits. Wenn Sie Chancellor als Hauptverantwortlichen für die Morde und Jamey als seinen willenlosen Helfer darstellen würden, könnten Sie damit vorzüglich beide Aspekte vereinbaren. Sie könnten behaupten, dass Chancellor der wirkliche Mörder war und Jamey ihm dabei nur zusah. Damit würde die Hauptschuld einem Toten zufallen, und die Tötung Chancellors, die man Jamey als einzige Tat anlasten könnte, wäre verständlich als Notwehr gegen einen sadistischen Verführer.«
Souza lächelte breit.
»Sehr eindrucksvoll, Doktor. So habe ich mir das ungefähr vorgestellt. Es steht fest, dass alle Opfer an einem unbekannten Ort umgebracht und irgendwo in der Stadt deponiert wurden. Ich werde behaupten, dass die Morde auf Chancellors Grundstück begangen wurden und Jamey nur als Beobachter dabei war, der sich in der Gewalt eines älteren Verführers und in psychotischer Verwirrung befand. Der Junge hatte schließlich einige Monate solche Zustände. Zweifellos war seine Anwesenheit bei den schrecklichen Morden die Ursache für den Zusammenbruch, und die Notwendigkeit, ihn in einer Anstalt unterzubringen.«
»Aber während seiner Unterbringung haben die Morde aufgehört.«
Er wehrte dieses Argument mit einer Handbewegung ab.
»Chancellor war, wie wir wissen, ein kranker Mann. Wenn er nun nicht bloß schwul, sondern auch exhibitionistisch veranlagt war? Viele sind das. Ich behaupte, dass er bei seinen Untaten einen Augenzeugen brauchte und Jamey dafür aussuchte. Sicher hatten die beiden etwas miteinander. Ich würde nie vortragen, dass Jamey ein Unschuldslamm ist. Entscheidend ist aber, wer der Hauptverantwortliche war. Wer ordnete alles an, wer bereitete es vor? Ein selbstbewusster, dominierender Erwachsener oder ein psychotischer Teenager? Auch die Flucht aus der Klinik spricht nicht dagegen. Ich habe Detektive auf Zeugen angesetzt, die Jamey in dieser Nacht gesehen haben. Wenn wir nachweisen könnten, dass Chancellor Jamey aus Canyon Oaks entführt hat, wäre darstellbar, dass er ihn für die nächste Blutorgie als Augenzeugen brauchte. Er nahm ihn mit zu sich nach Hause und ermordete Richard Ford. Dieses Mal aber ertrug Jamey das Abschlachten nicht; sie stritten sich, kämpften miteinander, dabei tötete der Junge den Mörder.«
Als er mich für die Verteidigung Jameys gewinnen wollte, hatte Souza den Fall als ziemlich hoffnungslos dargestellt. Und jetzt, kaum zwei Tage später, führte er mir ein Psychodrama vor, das aus einem Monster einen abhängigen Sklaven und schließlich sogar einen Drachentöter machte. Dabei fragte ich mich, wie stark er auf diese Strategie vertraute. Meiner Meinung nach hatte sie viele Schwachstellen.
»Sie haben Chancellor als einen kräftigen Mann geschildert. Jamey ist dagegen ein Nichts. Wie konnte er den Mann überwältigen und ihn an einem Balken aufhängen?«
»Dig war überrascht«, antwortete er wenig beeindruckt, »und Jamey wurde durch die Freisetzung aufgestauter Emotionen hochgeputscht. Sie kennen ja die Wirkung von Adrenalin. Es ist erstaunlich, was eine schwache Person mit einer passenden Vorrichtung anheben kann. Ich kenne einen bedeutenden Physiker, der das bestätigen
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