Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
Nach siebenmaligem Läuten antwortete eine nüchterne junge Frauenstimme:
»Büro von Dr. Flowers.«
»Hier ist Dr. Delaware. Ich bin ein früherer Mitarbeiter von Dr. Flowers. Ich bin zufällig in der Nähe. Könnte ich eventuell vorbeikommen? Ich hätte etwas mit ihr zu besprechen.«
»Ihr Terminkalender heute ist voll ausgebucht.«
»Wann hat sie wieder Zeit?«
»Erst morgen.«
»Vielleicht ist sie einverstanden, vorher mit mir zu reden. Könnten Sie sie bitte fragen?«
Sie antwortete mit einem Anflug von Argwohn: »Wie war noch mal Ihr Name?«
»Delaware. Dr. Alex Delaware.«
»Sie sind nicht von der Zeitung, oder?«
»Nein, ich bin Psychotherapeut. Ich habe beim Projekt 160 mitgearbeitet.«
Zögern.
»Na gut, ich gehe fragen.«
Es dauerte mehrere Minuten, bis sie mir mit leicht verärgerter Stimme mitteilte:
»Sie können sie in zwanzig Minuten sprechen. Ich heiße Karen, kommen Sie zum Aufzug im vierten Stock.«
Als ich den Aufzug verließ, kam sie gerade um die Ecke. Sie war groß und anmutig, trug ein rotweißes Kleid, das ihr sehr gut stand. Ihr Haar war hochgesteckt, sie hatte hübsche kleine Ohren und hohe Wangenknochen. Sie trug ovale Elfenbeinohrringe und elfenbeinerne Armreifen.
»Dr. Delaware? Ich bin Karen. Bitte hier entlang.« Sie führte mich zu einer Tür mit der Aufschrift: »Untersuchung - bitte nicht stören«.
»Sie können hier drin warten. Es kann nur noch ein paar Minuten dauern.«
»Danke.«
Sie nickte freundlich. »Bitte seien Sie mir nicht böse, dass ich vorhin etwas abweisend war. Seit dieser Cadmus-Geschichte lässt man ihr keine Minute Ruhe. Wir hatten größte Mühe, heute Morgen einen Mann vom Enquirer loszuwerden.«
»Keine Angst, so einer bin ich nicht.«
»Möchten Sie Kaffee oder sonst etwas zu trinken?«
»Nein, vielen Dank.«
»Gut, ich gehe dann.« Sie legte die Hand auf die Türklinke, zögerte. »Sie sind auch wegen Cadmus hier, stimmt’s?«
»Ja.«
»Was für eine verrückte Sache. Wir haben ganz schöne Schwierigkeiten wegen des Projekts bekommen deswegen. Dr. Flowers hat schon so Ärger genug, aber jetzt ist es wirklich schlimm.«
Ich lächelte freundlich, denn ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
Der Raum war düster. Ein Mikrofon hing von der Decke herab, welche, wie drei der Wände auch, mit schalldämpfenden Platten isoliert war. Die vierte Wand war ein durchsichtiger Spiegel. Eine Frau saß in einem Korbsessel und schaute hindurch. Auf ihrem Schoß lag ein Schreibblock. Sie wandte sich um, als ich eintrat, und lächelte.
»Alex«, flüsterte sie.
Ich beugte mich zu ihr und küsste ihr die Wange. Sie duftete nach Sonnencreme und Chlor.
»Hallo, Sarita.«
»Ich freu mich, dich zu sehen«, sagte sie, nahm meine Hand und drückte sie.
»Ich freu mich auch.«
Sie saß aufrecht in ihrem Stuhl, war salopp, aber doch etwas konventionell gekleidet, mit einem blauen Blazer, einer hellblauen Seidenbluse und weißen Hosen, die jedoch ihre verkrüppelten Beine nicht verbargen.
»Ich bin in ein paar Minuten fertig«, sagte sie und wies auf den Spiegel. Auf der anderen Seite sah man einen hell erleuchteten Raum ohne Fenster, weiß gestrichen und mit Linoleumboden. Darauf saß ein Junge vor einer elektrischen Eisenbahn.
Er war etwa sechs oder sieben, trug Jeans, ein gelbes T-Shirt und Turnschuhe. Er hatte rosa Pausbacken und karamellfarbenes Haar. Zur Miniatureisenbahn gehörten bunte Waggons, silberne Schienen, eine Landschaft mit Brücken, Seen und Hügeln aus Pappmaché, Bäumen und Signalen, zweistöckigen Häusern und Holzzäunen.
Am Kopf des Jungen waren Elektroden befestigt, sie hingen an langen schwarzen Kabeln, liefen wie Schlangen über den Boden und mündeten in einen Enzephalographen, aus dem langsam ein Papierstreifen hervorkam, mit spitzen und welligen Linien.
»Nimm dir einen Stuhl«, sagte Sarita, die gerade mit einem Bleistift eine Notiz machte.
Ich setzte mich auf einen Klappstuhl und beobachtete das Kind. Während es zunächst nervös und zappelig gewesen war, saß es jetzt stocksteif da. Ein Summer ertönte, und der Zug begann, auf den Schienen seine Kreise zu drehen. Der Junge lächelte, seine Augen weit geöffnet. Kurz darauf ließ seine Konzentration nach, und er schaute weg. Der Zug blieb stehen, und er blickte wieder auf die Lok, schien dann in eine Art Trance zu fallen, das Gesicht ohne Regung, die Hände im Schoß gefaltet. Ich konnte nirgendwo einen Schalter erkennen, und immer wenn der Zug fuhr oder
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