Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
anhielt, schien das von ganz allein zu geschehen.
»Er macht das sehr gut«, sagte Sarita. »Achtundfünfzig Prozent der Zeit passt er auf.«
»Hat er Konzentrationsschwächen?«
»Und was für welche. Als er zum ersten Mal hier war, rannte er nur herum, konnte keinen Moment ruhig sein. Seine Mutter war drauf und dran, ihn zu töten. Ich habe noch ein Dutzend andere, die sind wie er. Wir untersuchen gerade, wie man solchen Kindern Selbstbeherrschung beibringen kann.«
»Ihr macht ihnen ihren Zustand bewusst, damit sie ihn selbst steuern können, oder?«
Sie nickte.
»Da die meisten von ihnen sehr angespannt sind, habe ich mir überlegt, dass der Zug ihnen helfen könnte, lockerer zu werden. Der Zug ist durch Kabel mit dem EEG-Gerät verbunden. Wenn sie im Konzentrationsstadium sind, fährt er los, wenn sie abgelenkt werden, hält er. Eines unserer Kinder hasst Züge, bei ihm machen wir es mit einem Kassettenrekorder, der Musik spielt. Wir können die Anlage immer neu programmieren. Wenn sie Fortschritte gemacht haben, dauert es länger, bis die Züge fahren, und so sitzen sie automatisch länger still und aufmerksam da. Das gibt ihnen mehr innere Sicherheit und steigert ihr Selbstwertgefühl. Ein Student, der seine Doktorarbeit darüber schreibt, macht die Auswertungen.«
Saritas Armbanduhr gab ein Piepsen von sich, sie stellte es ab, machte sich noch ein paar Notizen, griff mit der Hand nach oben und zog ein Mikro zu sich herunter.
»Sehr gut, Andy. Heute hast du ihn ja prima am Laufen gehalten.«
Der Junge blickte auf und berührte eine der Elektroden.
»Es kneift«, sagte er.
»Ich komme sofort und nehm es dir ab. Einen Moment, Alex.«
Sie rollte zur Tür, stieß sie auf, fuhr hindurch. Ich folgte ihr auf den Flur. Eine junge Frau mit einem viel zu alten Gesicht, bekleidet mit Shorts und einem dünnen Hemd, stand neben einer Tür, gegen die Wand gelehnt. Mit einer Hand drehte sie an einer langen schwarzen Haarsträhne herum, in der anderen hielt sie eine Zigarette.
»Guten Tag, Mrs. Graves. Wir sind gleich fertig. Andy hat es heute sehr gut gemacht.«
Die Frau zuckte mit den Schultern und seufzte.
»Ich will’s hoffen. Heute hat mir die Schule wieder einen Bericht über Andy geschickt.«
Sarita sah sie an, reichte ihr die Hand, lächelte und öffnete die Tür. Sie rollte zu dem Jungen hin, nahm ihm die Elektroden ab, strich ihm übers Haar und sagte ihm noch einmal, wie gut er es heute gemacht habe. Sie fasste in die Tasche ihres Blazers, zog ein kleines Spielzeugauto heraus und schenkte es ihm.
»Danke, Dr. Flowers«, sagte er und fingerte daran herum.
»Gern geschehen, Andy. Mach weiter so, ja?«
Er war aber schon aus dem Zimmer gelaufen, ganz mit seinem neuen Spielzeug beschäftigt, und hörte sie nicht mehr.
»Andy«, sagte seine Mutter, »was sagst du zur Frau Doktor?«
»Das hab ich schon!«
»Dann sag es noch mal.«
»Danke«, sagte er widerstrebend.
»Also dann, Wiedersehen«, sagte Sarita. Die beiden gingen fort. Als sie außer Hörweite waren, sagte sie: »Ganz schön konfliktreich, das Verhältnis der beiden. Komm, Alex, wir gehen in mein Büro.«
Das Zimmer war anders, als ich es in Erinnerung hatte. Es war spartanisch eingerichtet, nicht mehr das typische Arbeitszimmer eines Wissenschaftlers. Mir wurde schnell klar, dass sie wegen ihrer Behinderung die hohen Bücherregale durch niedrige Bretter ersetzt hatte, die alle Wände umliefen. Der schwere Schreibtisch aus Eichenholz in der Mitte des Raumes war einem niedrigen Tisch gewichen, der in einer Ecke stand. An der Wand hinter dem Tisch hatten einst Unmengen von Fotos gehangen, Erinnerungen an ihre Zeit als Sportlerin. Es waren nur noch wenige Bilder übrig. Zwei Klappstühle standen gegen die Wand gelehnt. Es war viel freier Raum überall, aber als der Rollstuhl hineinfuhr, war der Raum fast ausgefüllt.
»Bitte«, sagte sie und wies auf die Stühle. Ich klappte einen auf und setzte mich.
Sarita fuhr an den Tisch heran und legte ihre Papiere darauf. Sie sah die Zettel durch, die man ihr in ihrer Abwesenheit hingelegt hatte, und ich betrachtete die Bilder an der Wand: ein strahlender Teenager, der in Innsbruck die Goldmedaille erhält, das Programm der Eisrevue von 1965, das Schwarzweißfoto einer schlanken jungen Frau, die über das Eis gleitet, und die eingerahmte Titelseite einer Frauenzeitschrift mit dem Bild von Sarita Flowers und der Aufschrift: »Gesund und schön mit Eisstar Sarita«.
Sie drehte sich mit ihrem Stuhl
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