Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
verantworten müssen, aber solange Sie hier sind, werden Sie weder schaden noch nützen.« Sie machte eine Pause.
»Ihr ehemaliger Patient ist nicht mehr da.«
Bevor ich antworten konnte, fuhr sie fort:
»Mr. Cadmus ist entflohen, nachdem er die arme Miss Brown angegriffen hat.«
Die dicke Blonde sah auf. Toupiertes weißblondes Haar krönte sie wie eine Sahnehaube. Das Gesicht darunter war bleich und teigig mit rosa Flecken. Unter schmal gezupften Brauen blickten kleine olivbraune Schweinsaugen hervor, die rot gerieben waren. Ihre dicken, rot verschmierten Lippen zitterten nervös.
»Ich wollte nach ihm sehen«, schniefte sie, »wie ich das jeden Abend mache. Er war immer so ein netter Junge, und ich habe ihm die Fesseln abgemacht, wie immer. Der Junge sollte doch ein bisschen Freiheit haben, verstehen Sie? Ein wenig Mitleid schadet doch nicht, oder? Dann habe ich ihn massiert, Handgelenke und Fußknöchel. Dabei entspannt er sich und fängt an zu lächeln wie ein Baby. Er kann manchmal gut einschlafen danach. Aber heute ist er hochgesprungen, völlig verrückt, hat geschrien, Schaum vor dem Mund. Hat mich in den Magen geschlagen, mit dem Betttuch gefesselt und mit dem Handtuch geknebelt. Ich hatte Angst, dass er mich erwürgt, er hat aber nur meinen Schlüssel mitgenommen und …«<
»Das reicht, Marthe«, fiel ihr Mrs. Vann ins Wort. »Regen Sie sich doch nicht schon wieder auf. Antoine, bringen Sie sie zur Schwesternstation, und geben Sie ihr Suppe zu essen.«
Der Schwarze nickte und führte die Korpulente aus dem Raum.
»Eine Privatschwester«, sagte Mrs. Vann abfällig, als sie verschwunden waren. »Wir beschäftigen so was nie, aber die Familie bestand darauf, und wenn großes Geld im Spiel ist, sind die Vorschriften nichts mehr wert.« Ihr steifes Schwesternhäubchen raschelte, als sie den Kopf schüttelte. »Sie ist Springerin, nicht fest angestellt, Personalvermittlung. Sie haben gerade gehört, was sie angerichtet hat.«
»Wie lange ist Jamey schon hier?«
Sie kam auf mich zu und stach mir mit den Fingerspitzen über die Schläfe. Auf ihrem Namensschild befand sich ein Foto, das jedoch die Wirklichkeit nur ungenügend wiedergab. Darunter stand ihr Name: Andrea Vann, staatl. gepr. Krankenschwester.
»Mein Gott, was sind Sie hartnäckig«, sagte sie schelmisch. »Meinen Sie, dass eine solche Information jetzt weniger vertraulich ist als vor einer Stunde?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Als wir vorhin telefonierten, hatte ich den Eindruck, dass Sie mich für einen Spinner halten.«
Sie lächelte wieder kühl.
»Und weil Sie mir jetzt persönlich gegenüberstehen, glauben Sie, ich sei tief beeindruckt?«
Ich grinste so charmant wie möglich.
»Wenn ich so aussehe, wie ich mich fühle, kann ich das kaum erwarten. Ich versuche nur, irgendeinen Sinn in dem zu finden, was ich in den letzten Stunden erleben musste.«
Ihr Lächeln wirkte gequält, aber trotzdem ein wenig freundlicher.
»Wir verlassen am besten die Station«, erwiderte sie. »Die Zellen sind zwar schallgedämpft, aber die Patienten haben einen unheimlichen Sinn für besondere Ereignisse, so eine Art tierischen Instinkt. Dann fangen sie an zu schreien und werfen sich gegen die Wand.«
Wir gingen zum Empfangsraum und setzten uns hin. Edwards schlurfte missmutig herum und bekam den Auftrag, Kaffee zu holen. Er verzog den Mund, schluckte seinen Ärger hinunter und gehorchte.
Sie nahm einen Schluck und stellte die Tasse ab.
»Ich habe Sie wirklich für einen Spinner gehalten, wir haben viele hier. Als ich Sie dann aber sah, habe ich Sie gleich erkannt. Vor ein paar Jahren habe ich Ihre Vorlesungen über kindliche Ängste besucht. Sie waren sehr gut.«
»Danke.«
»Mein Sohn hatte damals Albträume, und ich habe ihm mit einigen Ihrer Ratschläge helfen können.«
»Das freut mich.«
Sie zog eine Packung Zigaretten aus ihrem Kittel und steckte sich eine an.
»Jamey hat Sie sehr geschätzt. Er hat Sie ab und zu erwähnt. Wenn er bei Sinnen war.«
Sie zog die Stirn düster in Falten. Ich fasste nach: »Und das geschah nicht oft?«
»Nein, nicht oft. Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Vor fünf Jahren.«
»Sie würden ihn kaum wiedererkennen. Er …«, sie brach ab. »Ich darf Ihnen nicht mehr sagen. Heute Nacht sind schon genug Vorschriften missachtet worden.«
»Das verstehe ich. Können Sie mir nur noch sagen, wie lange er schon vermisst wird?«
»Ungefähr eine halbe Stunde. Die Wärter suchen ihn draußen mit
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